Das ist ein Leben wie im Roman, wie in Film und Fernsehen: Ein Mann, der den Zweiten Weltkrieg an der Ostfront überlebt hat und fürderhin dem Frieden dienen will, wird – von einem Freund angeworben – zum Agenten. Für den Auslandsgeheimdienst der DDR (Hauptverwaltung Aufklärung = HVA) geht er nach Brüssel, wo sich das Hauptquartier der NATO befindet. In der belgischen Hauptstadt entdeckt der vormalige Elektriker und Journalist seine Begabung für die Kunst und wird Mitarbeiter des Bildhauers Olivier Strebelle (den er im Übrigen nicht bespitzelt, es geht ja um die NATO).
Von der Bildhauerei lässt Horst Meier alias Erwin Miserre auch nach seiner Rückkehr in die DDR die Finger nicht. 35 Jahre lang sei er im Verborgenen Künstler gewesen, hören wir – er musste sich allerdings nicht verstecken, vielmehr wirkte er unbedrängt, ohne Druck. An die Öffentlichkeit wollte der 1925 bei Zeitz Geborene zeit seines Lebens nicht. In diesem Jahr starb er.
Günther Rothe, Maler und Musiker aus Leipzig, ist fasziniert vom „Demontablen“ bei Meier/Miserre. Er erfuhr vor zweieinhalb Jahren vom früheren Nebenberuf des Künstlers, lernte ihn jedoch bereits Anfang der 1980er Jahre kennen. Damals schon arbeitete er für ihn, goss seine Plastiken – jetzt tat er es wieder. Meiers Meister Olivier Strebelle nennt er einen „Weltstar, mit Neo Rauch zu vergleichen“.
Und auch Rothe hat einen Assistenten. Gerald Grundmann heißt der, schreibt, spricht, singt und veranstaltete 2015 ein Lieder- und Lyrikfestival in der Alten Börse. Grundmann, Leipziger wie Rothe, betrieb „Recherche und Rekonstruktion“, vertiefte sich in Aufzeichnungen Meier/Miserres, befragte dessen belgische Frau und die Kinder, denn der „Künstler, der sich Schönheit traute“ (O-Ton Gerald Grundmann), sprach nicht mehr. 1993, verrät der Nachforscher ein Detail, hätte der Verfassungsschutz von Meiers HVA-Tätigkeit erfahren, Konsequenzen gab es keine.
Seit 4. November 2016 präsentieren Rothe und Grundmann im hiesigen Hotel Westin des Kundschafters Kunst. Für fünf, sechs oder acht Wochen – genauer wollte man sich nicht festlegen – sind die Skulpturen im Eingangsbereich zu sehen, danach zieht die Werkschau nach Berlin, Frankfurt am Main und Dresden, ebenfalls in Hotels.
Die Ausstellungsmacher bringen Parallelwelten miteinander in Verbindung und erinnern uns dabei an Robin Hood, Till Eulenspiegel und Stülpner Karl. Sie sorgen dafür, dass Otto und Lieschen Normalleipziger einfach so in das noble Haus an der Gerberstraße hineinspazieren dürfen, sie liefern den Grund des neugierigen Besuchs. Denn wir sollten davon ausgehen, dass immer ein Hotelangestellter heranpreschen und die Frage, wie und ob er zu helfen in der Lage sei, stellen wird.
Und Rothe, der sympathische Alleskönner, der wie Meier aus dem heutigen Burgenlandkreis stammt (geboren in Lützen), antwortet dank seiner 70jährigen Lebenserfahrung souverän auf kritische Fragen. Warum zeige er die Schau in einem Hotel statt in einer Galerie oder einem Museum? Weil ein Hotel 24 Stunden am Tag geöffnet habe! Zudem bringt er Meiers Kunst schlau in Verbindung mit der Leipziger Schule (von der er sich selbst allerdings abgrenzt), weil Meiers Kunst nämlich erzähle, wie auch die Leipziger Schule erzähle …