Diesen Beitrag veröffentlichte unser Blogger-Kollege Harald Stein am 12. Juni auf wortblende, dem Spezialorgan für die Geschichte des Leipziger Ostens. Wir dürfen ihn übernehmen, danken herzlich und weisen auf die vielen detailreichen Artikel und historischen Fotos auf Haralds Seiten hin. Lest wortblende!
(H.St.) Nein, es geht hier nicht um Fußball, sondern um Rolf Buschmann, der in der Neuschönefelder Reinhartstraße seine Kindheit und Jugendzeit verlebt hat. Im heutigen Stadtplan kann man zwar eine Reinhardtstraße in Sellerhausen-Stünz finden, aber um diese Straße (mit dt) geht es hier nicht. Wo soll denn in Neuschönefeld eine Reinhartstraße gewesen sein? Um das zu ergründen, habe ich an einem Nachmittag in der letzten Woche den agilen Senioren Rolf Buschmann in seiner schönen Eutritzscher Wohnung besucht. Er ist inzwischen über 92 Jahre alt, besucht aber noch oft das Internet und schreibt gern an seinem Rechner – momentan über seine Erinnerungen an die Reinhartstraße. Wir haben uns über seine Jahre in der Neuschönefelder Reinhartstraße unterhalten (1929 bis 1947) und ich habe dabei interessante Details entdeckt.
Lagebeschreibung
Bei einem Blick auf die aktuelle Open-Street-Map-Karte sind im früheren Gemeindebereich von Neuschönefeld nur noch wenige Straßen zu sehen. Der Bereich wird heute vor allem durch die grüne Fläche des Rabetparks dominiert. Sieht man sich demgegenüber einen älteren Plan von Leipzig an, dann kann man feststellen, dass diese Gegend einst dicht bebaut war. Aus meinem Plan vom Jahr 1929 (mit Stand Juli 1928) habe ich zur besseren Übersicht eine detailliertere Karten-Skizze angefertigt. Darin ist ein Teil des heutigen Rabetparks dargestellt – mit den damaligen Gemeindegrenzen (Neuschönefeld, Volkmarsdorf und Reudnitz), den damaligen Straßenbezeichnungen und Hausnummern. [Quelle #1] Die im Text erwähnten Gebäude sind farblich (orange) hervorgehoben.
Und aha – natürlich gab’s damals auch die gesuchte relativ kurze und schmale Reinhartstraße. Die Reinhartstraße hatte ihren Namen von Hans Reinhart, einem Leipziger Goldschmied und Medailleur, der zu Weihnachten 1580 verstorben war. [Quelle #2] Die Lage der alten Kartenskizze habe ich in die Open-Street-Map-Karte eingetragen und die vermutliche Position des Hauses Reinhartstraße 8 rot angekreuzt. Zum Vergleich der Straßennamen: Die Reclamstraße und die Straße Rabet heißen immer noch so, die Kirchstraße heißt inzwischen Hermann-Liebmann-Straße, aber die Neuschönefelder Adelheid-, Martha-, Melchior-, Rosen-, Reinhart- und Thümmelstraße kann man heute nicht mehr auffinden. Soweit alles klar? Dann zu den …
Kindheitserinnerungen
Rolf Buschmann (im Folgenden Rolf B. genannt) sagt über den Umzug nach Neuschönefeld: „Von 1929, da war ich drei Jahre alt, bis 1948, habe ich in der Reinhartstraße 8 gewohnt. Wir wohnten vorher in der Kirchstraße.“ Über die Leipziger Adressbücher der 1920er Jahre (LAB) lässt sich ermitteln, dass Vater Arthur Buschmann (mit seiner Frau Rosa und mit Rolf) vor 1929 in der Volkmarsdorfer Kirchstraße 28, 1. Etage, gewohnt hatte. [Quelle #2] Zum Haus Reinhartstraße 8 sagte Rolfs Mutter Rosa: „Das ist eine richtige Hornz’sche.“ [Erklärung für Zugereiste: Hornz’sche – Bruchbude, (selbst-)ironisch für jegliche Behausung]
Im Jahr 1932 ist Rolf B. in die Schule gekommen. Dazu gibt es eine Aufnahme von ihm mit Schulranzen, die offenbar vor dem Haus Reinhartstraße 8 mit Blick nach Osten (rechts um die Straßenecke zur Marthastraße) entstand. Rolf B. steht auf der sehr schmalen Reinhartstraße, im Hintergrund das Haus Reinhartstraße 11, rechts der Hofeingang zum Nachbarhaus Reinhartstraße 10. [Quelle #3] Rolf B.: „Zunächst bin ich in die 13. Volkschule in der Reclamstraße eingeschult worden, später habe ich die 21. Volksschule in Schönefeld besucht, da bin ich mit der Straßenbahn hingefahren.“
Im Mai 1933 wurde die Kirchstraße in Alfred-Kindler-Straße umbenannt. Rolf B.: „Ich habe noch miterlebt, wie die Nationalsozialisten auf dem kleinen Platz an der Bergstraße ein Mahnmal für Alfred Kindler [Mitte Oktober 1932 erschossener SA-Mann] errichteten. Da gab es zum Todestag Mahnwachen mit SA-Leuten und meine Mutter sagte: ,Wenn Du dort vorbei gehst, dann musst Du grüßen, sonst wirst Du zurückgeholt.‘“ Mit „Grüßen“ war natürlich der Hitlergruß gemeint, eine gezielte Provokation im Arbeiter-Wohngebiet des Leipziger Ostens.
Die folgenden Bilder zeigen seltene Aufnahmen von der Reinhartstraße im Jahr 1936. Rolf B. zum Bild mit dem Haus Reinhartstraße Nr. 8 (links): „So sah das Haus aus.“ Seine Mutter Rosa B. schaut aus einem ihrer drei Fenster in der ersten Etage. Die Aufnahme in Richtung Osten zeigt links neben dem Haus Nr. 8, daneben das Haus Nr. 10 (wie beim Schulanfangsbild).
Auf dem nächsten Bild steht Rolf B. vor einem PKW in der Reinhartstraße, diesmal aber mit Blick nach Westen. Links die beiden Nachbarhäuser haben beide keine Haustür zur Reinhartstraße. Rolf B.: „Wissen Sie, was merkwürdig war? In der Reinhartstraße hatten mehrere Häuser Hausnummern, aber keinen Eingang.“ Stimmt – deshalb trug das Nachbarhaus von der Reinhartstraße 8 kurioserweise nicht etwa die Hausnummer Reinhartstraße 6, sondern wurde mit Marthastraße 19 nummeriert und das daneben war die Marthastraße 17. Anschließend sieht man im Bild eine kleine Häuserlücke, das war der Hof der Kohlenhandlung von Karl Steinmetzer, diese gehörte aber wieder zur Reinhartstraße 2 – schon etwas speziell mit der Nummerierung an der Reinhartstraße. Die Grundstücke zwischen den engen Straßen waren so klein, dass die Bebauungsmöglichkeiten von vornherein begrenzt waren, da konnte man offenbar nicht in beide Straßenrichtungen Wohnhäuser platzieren (siehe Kartenskizze oben). Und das geht noch weiter: Die im Bild rechts anschließenden Gebäude gehören zu den Häusern Marthastraße 13 und 11. Ganz rechts am Bildrand nur andeutungsweise zu sehen ist das Haus Marthastraße 9, eine „Kleinkinder-Bewahranstalt“ – im Adressbuch von 1936 steht dazu „Städt. Kindertagesheim, Eigentümer Stadt Leipzig“.
Die Reinhartstraße verläuft rechts um die Ecke zur damaligen Adelheidstraße (zu DDR-Zeiten Otto-Runki-Straße), links gab an dieser Ecke eine sogenannte „Schlippe“, einen Durchgang zur Marthastraße. Diese Ecke Reinhart-/Otto-Runki-Straße habe ich im November 1975 fotografiert (siehe Bild unten). Am rechten Bildrand kann man eine Straßeneinmündung mit einem Straßenschild erahnen – dort beginnt die Reinhartstraße. Im Vordergrund ist ein ruinöser Teil vom Ballsaal Klein-Sanssouci zu sehen, kurz vorm Abriss. Rolf B. zum legendären Ballhaus Klein-Sanssouci: „Ich bin als Schulkind einmal mit meinem Vater im Ballhaus gewesen, das war das Haus [Adelheidstraße] Nr. 18, die ganze Ecke. Mein Vater sagte: ,Das musste mal sehn!‘ Ich bin nie wieder dort gewesen. – Einmal habe ich dort einen Einsatz der Schutzpolizei miterlebt. Mein Schlafzimmer, wir wohnten im ersten Stock, ging nach der Straße raus. Da kam abends ein Überfallkommando. Dann sprangen sie von allen Seiten raus, mit Tschako auf dem Kopf …“
Zur Wohnung in der Reinhartstraße noch zwei Anmerkungen:
Rolf B.: „Das Haus Reinhartstraße 8 hatte [im Hofbereich] zwei Seitengebäude. Wenn wir aus dem Küchenfenster guckten, rechts das Seitengebäude hatte nur ein Stockwerk. Unten war die Waschküche, wo die Hausfrauen ihre Wäsche gewaschen haben. In der ersten Etage dieses Seitengebäudes wohnte ein gewisser Alexander Porz. [lt. Adressbuch 1936: Porz, A., Schlosser H1 – H1 = Hinterhaus, 1. Etage] Wenn Sie ins Internet gehen, dann können Sie den Mann kennenlernen.“ Ja, er wurde später Prorektor für Studienangelegenheiten an der Karl-Marx-Universität Leipzig. [Quelle #4]
Rolf B.: „Wie blickten über den Hof weg in die Marthastraße 21, dort war eine Kneipe, das ,Marthaschlößchen‘. In der Marthastraße 21 wohnte [damals] meine Freundin.“
Im Jahr 1941 begann Rolf B. eine kaufmännische Lehre beim Leipziger Reichsmesseamt (Ausbildung in der Hohen Straße), die er erfolgreich abschließen konnte. Allerdings kam er vorerst beruflich nicht weiter, weil er ab 1943 als 17jähriger erstmal zur Ausbildung bei der Wehrmacht einrücken musste. Nach dem Krieg wurde er als SEP (Surrendered Enemy Personnel) interniert und kam erst 1947 nach Leipzig in die Reinhartstraße zurück. Nach der Hochzeit zog er dort aus und mit seiner Frau in die Konstantinstraße. Beide wohnen heute in Eutritzsch, aber das hatte ich ja bereits eingangs erwähnt. Rolf B. studierte nach dem Krieg an der Uni Leipzig Journalistik, war als Pressesprecher des Leipziger Messeamtes tätig und hat als Redakteur an Messe-Publikationen mitgewirkt, z.B. zur Messegeschichte und speziell zum Messejubiläum im Jahr 1965 (800 Jahre Leipziger Messe).
Als letztes ein Foto von der Reinhartstraße, dass Rolf B. im Jahr 1976 im Areal aufgenommen hatte. Die Gebäude sind kurz vor dem Abbruch von der Hofseite aus mit Blick aus Richtung Marthastraße aufgenommen. Die Lage der Wohnungen von Rolf B. und Alexander Porz im Seitengebäude hat Rolf B. im Bild beschriftet. Links ist das Haus Marthastraße 19 und rechts die Ruine des Eckhauses Reinhartstraße 10 abgebildet. Das folgende Bild wurde Mitte der 1980er Jahre aufgenommen. Es zeigt einen Teil der Marthastraße mit Blick zur Liebmannstraße. Es sind noch folgende Häuser (von rechts nach links) zu sehen: Marthastraße 18, Häuserlücke (Nr. 20 und 22), Nr. 24, 26, Häuserlücke (Nr. 28 und 30) Nr. 32 und Nr. 34. Die Reinhartstraße mündete etwa im Bereich der Häuserlücke (Nr. 28) in der Bildmitte in die Marthastraße. Heute gibt es dort keine Häuser mehr.
Anmerkungen
zu Häusern, die im Text erwähnt wurden oder erwähnenswert sind [z.B. durch Handel und Gewerbe gemäß Quelle #2, LAB 1929] und die in der obigen Kartenskizze von mir farblich hervorgehoben wurden.
Adelheidstraße
Nr. 18 Ballhaus Klein-Sanssouci, Ermisch Kronenbräu
Nr. 19 Messerstanzerei, G. Caliari
Nr. 20 Lebensmittelgeschäft, C. Mossig
Nr. 22 Produktenhandlung, H. Schmidt
Nr. 25 Kohlenhandlung
Nr. 26 Kolonialwaren, O. Kober
Nr. 27 Bäcker, Rudolf Frankenstein
Nr. 31 Rohproduktenhandlung, G. Endorf
Kirchstraße
Nr. 45 Städt. Versorgungshaus III
Nr. 50 Papierwaren, Ch. Kammenwurf
Nr. 53 Bäcker, A. Wienhold
Nr. 58 Molkereiartikel, H. Hellmann
Nr. 59 Blumenhandlung, F. Röse
Marthastraße
Nr. 9 Städt. Kindertagesstätte
Nr. 21 Gaststätte Marthaschlößchen, A. Fiedler (1936: H. Spiegel)
Quellenverzeichnis:
- Quelle #1: Plan der Stadt Leipzig, Ausgabe 1929 (eigenes Archiv)
- Quelle #2: Adressbücher der Stadt Leipzig, 1927, 1929, 1936, 1943, 1949 online über die SLUB (Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek Dresden)
- Quelle #3: Die Fotos von der Reinhartstraße habe ich von Rolf B. erhalten, die Veröffentlichung ist auf diesen Beitrag beschränkt. Außerdem habe ich Teile der abgestimmten Audio-Aufzeichnung vom Gespräch über seine Kindheit und Jugendzeit (Juni 2019) in einer Abschrift verwendet.
- Quelle #4: Online-Katalog der Professoren der Uni Leipzig