Hier plaudert ein Schöffe, der anonym bleiben will, ein Richter ohne Robe am Leipziger Landgericht. Als Ehrenamtlicher soll(te) er die amtlichen Richter in ihrem Findungsprozess unterstützen, ein vernünftiges und dem praktischen Leben gerecht werdendes Urteil zu finden. Für Außenstehende ist das gewiss oft spannend, zugleich lernen wir die Abgründe kennen, in die ein Mensch geraten kann. Dann verspüren wir eine innere Erleichterung darüber, dass wir um solche Stolperfallen bisher drumherum gekommen sind.
Die Formel „Im Namen des Volkes“ ist Ausdruck dafür, dass die Rechtssprechung wie alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht. Die Formel bringt daher in erster Linie zum Ausdruck, dass die Richter als Vertreter der Staatsgewalt Recht sprechen. Da ihre Entscheidung allein an das Gesetz gebunden ist, bedeutet sie auch, dass das Urteil dem als Gesetz formulierten Willen der Bevölkerung entspricht. Sie meint aber nicht eine Abhängigkeit von der Volksmeinung, wie sie etwa in Umfragen zum Ausdruck gebracht wird. Ein weiterer schlagwortartiger Ausdruck ist „In dubio pro reo“ („Im Zweifel für den Angeklagten“). Auf Deutsch: Ein im Strafprozess Angeklagter darf nicht verurteilt werden, wenn dem Gericht Zweifel an seiner Schuld verbleiben. Desweiteren: Richter werden für Fehler, auch für grobe Fehler, nicht zur Verantwortung gezogen, obwohl sie wie alle Menschen versagen und unrichtige Entscheidungen treffen können. Während Ärzte, Rechtsanwälte und Freiberufler, die ebenfalls große Verantwortung tragen, aufs Strengste für sogenannte Kunstfehler haften, hat die Verletzung von Sorgfaltspflichten durch Richter normalerweise keine Konsequenzen. Sie müssen dafür persönlich nicht gerade stehen.
Diese wahren Einblicke haben nichts mit dem klischeehaften Katz-und-Maus-Spiel des Anwalts Florian Faber (Francis Fulton-Smith) und der Journalistin Sarah Pohl (Mariella Ahrens) aus der Serie „Ein Fall von Liebe“ zu tun, für die auch einige Filmklappen am, im und um das Landgericht Leipzig fielen. Nichts von so frisch gestrichenen und geleckten deutschen Gerichten, wie es die meisten Filmarchitekten heutzutage gern sehen. Ein Richter und seine „Gehilfen“ urteilen nur nach Fakten und nach Gutachten – das ist das Grundprinzip unseres Rechtssystems. So sollte es zumindest sein. Doch wehe, er oder sie hat einen schlechten Tag! Wie verhält es sich eigentlich, wenn die Strafvollzugseinrichtungen voll sind, sich die Akten mit unabgeschlossenen Fällen im Freistaat stapeln, die Zeit zwischen Tat und Verhandlungen immer länger wird? Ein Gericht, ein Landgericht, setzt sich in den meisten Fällen aus Richter(in), zwei Schöffen, einem Angeklagten, einem Verteidiger und einem Staatsanwalt zusammen. Sollte die Verhandlung öffentlich sein, dürfen Zuschauer daran teilhaben.
Blind vor Zorn legt er seine Hände um ihren Hals und drückt zu. „Töte mich morgen, lass mich heute noch leben“, fleht Desdemona. Sie weiß, dass sie unschuldig ist, sie muss nur dieser Situation entkommen, um das zu beweisen. Othello interpretiert die Angst im Gesicht seiner Frau als Bestätigung für ihren Verrat – und ermordet sie in ihrem gemeinsamen Bett. Das Shakespeare-Drama aus dem Jahr 1604 gehört nicht nur zur großen Literatur, sondern hielt auch als sogenannter Othello-Effekt Einzug in die Gerichts- und Verhörpsychologie. Je nervöser ein Verdächtiger bei einer Befragung ist, desto mehr hat der Vernehmende das Gefühl, dass der Verdächtige lügt. Ein Teufelskreis: Im Gerichtssaal sehen dann Richter und Schöffen den Angeklagten stammeln und schwitzen. Doch heutzutage weiß man, dass dieses Verhalten noch lange keinem Geständnis gleichkommt. Ein Gerichtssaal kann etwas in einem bewirken. Wenn beispielsweise eine Rocker-Gemeinschaft im Zuschauerraum sitzt, sofern sie sich an die Regeln hält, verfassungsfeindliche Symbole an Kutten, Gewändern oder Körperteilen abklebt. Oder wenn Kameras, Journalisten und Reporter vor Ort sind, auch wenn diese während der Verhandlung nicht fragen und filmen dürfen. Des Öfteren sehen wir Bilder im Fernsehen oder in der Zeitung, auf denen sich Angeklagte ihr Gesicht bedeckt halten. Das sind Aufnahmen, die vor der offiziellen Verhandlung gemacht werden.
Was vor Gericht wirklich zählen sollte und in den meisten Fällen auch tatsächlich zählt, ist: Wie wahr sind die Erinnerungen? Erinnerungen verblassen oder lassen sich durch Suggestivfragen verändern oder gar neu ins Gedächtnis rufen. Wie verändern Waffen unsere Wahrnehmung? Unter starker Erregung engt sich unser Sichtfeld auf die Quelle der Gefahr ein. Ist eine Hieb-, Stich- oder gar Schusswaffe im Spiel, können sich Zeugen meist schlechter an das Gesicht oder Kleidungsstücke des Täters erinnern. Warum sind Taten mächtiger als Worte? Wenn etwas schlecht in Worte zu fassen und nicht jeder gleich ausdrucksvoll begabt ist, man dies aber trotzdem versucht, schwächt dies offenbar die Erinnerung. Wie schätzen wir Menschen ein? Einen für uns attraktiven und gepflegten Menschen halten wir in der Regel auch für intelligent und gesellig. Wie frei ist ein Richter? Menschen neigen dazu, sich unbewusst beeinflussen zu lassen. Beispiel: Fordert der Staatsanwalt fünf Jahre, orientiert sich der Richter meist daran und urteilt härter, er gibt also eher vier Jahre. Fordert der Staatsanwalt hingegen nur zwei Jahre, fällt auch das Urteil des Juristen milder aus, er gibt also eher drei als vier Jahre.
Hat Gerechtigkeit eine Tagesform? So komisch es klingen mag, ja, hungrige und müde Richter fällen strengere Urteile. Am Morgen und nach Pausen stehen die Chancen für Angeklagte am besten. Wie fest ist eine Meinung? Den meisten fällt es schwer, den Gesamteindruck von einem Sachverhalt oder einer Person zu ändern, auch wenn Fakten auftauchen, die gegen unsere gefestigte Meinung sprechen. Machen Kleider tatsächlich Leute? Ja, wir halten die Aussage einer Person für glaubwürdiger, wenn diese älter ist, gepflegt und sympathisch wirkt und ähnliche Einstellungen zu haben scheint wie wir selbst. Zurückhaltenden, sozial ängstlichen Menschen sowie emotionslosen Schilderungen trauen wir weniger. Wie kompetent sind wir wirklich? Menschen im Allgemeinen sind davon überzeugt, in den meisten Dingen besser als der Durchschnitt zu sein. So glauben wir auch, besonders gut Lügen und eine abgezogene Show entlarven zu können – und liegen mit dieser Ansicht nicht selten daneben.
Ich höre schon einige Besserwisser sagen, er soll doch die Kirche im Dorfe lassen. Die unabhängige Rechtsprechung ist zweifellos ein wesentlicher Bestandteil des demokratischen Rechtsstaates. Das heißt aber nicht, dass Recht und Urteile vollkommen und stets unfehlbar sind. Denn so wie der Stress einer Befragung, der unmittelbaren Konfrontation, die gleichen Reaktionen hervorrufen kann, wie wenn man der Lüge überführt wird, so würde man wohl, wenn alles ans Tageslicht kommt, was tatsächlich hinter den Kulissen, in etlichen Amtsstuben, Ministerien abläuft, schreiend und die Hände über dem Kopf zusammenschlagend aus dem Gerichtssaal laufen. Sich ausweglos fühlend, in die Ecke gedrängt, würde man fiebrig erregt nach einer Lösung suchen. Das Internet, der Dauer-Pranger, ist ein weiterer ewiger GAU.
Fest steht, diese vier Jahre waren für mich definitiv nicht vertane Zeit: Ich habe viel gelernt, gesehen und gehört, z.B. welche Tagessätze ein Dolmetscher hat, bis zu wieviel Euro ein Gutachter seine Gage ins Nirwana treiben kann, welche kleinen, legalen Tricks Verteidiger anwenden, um einen weiteren Prozesstag ins Leben rufen zu können und damit erneut Geld zu verdienen. Aber es wurde mir auch nicht selten mein kindlicher Glaube ausgetrieben, dass alle Staatsdiener immer nur Gutes tun. So musste ich in den letzten Jahren zur Kenntnis nehmen, dass die Strafvollzüge gut gefüllt sind und deshalb von ganz oben, dem Justizministerium die Anweisung gekommen sein soll, Strafen in Geld oder gemeinnützige Arbeit, soweit vertretbar, umzumünzen.
Plötzlich hatten viele eine schwere Kindheit, Drogen hätten ihr Leben kaputt gemacht, sie negativ beeinflusst. Dies ist nicht meine Auffassung von Rechtssprechung. Ein weiterer unfassbarer Grund, meine ehrenamtliche Tätigkeit nicht zu verlängern, war, dass wie kürzlich der Presse zu entnehmen war, sich über 18.000 unabgeschlossene Fälle auf den Schreibtischen sächsischer Richter türmen. Somit verlängert sich der Zeitraum zwischen Tat und eventueller Verurteilung, was wiederum zur Folge hat, dass die Erinnerungslücken größer und größer werden. Ich habe selbst erlebt, dass wir uns mit einem Prozess aus dem Jahre 2014 auseinandersetzen mussten, der zuerst 2016 am Amtsgericht behandelt wurde, aufgrund einer Revision aber Ende 2018 vor der nächsthöheren Instanz, dem Landgericht, erneut aufgerollt wurde.
Bei all dieser ernsthaften Problematik bin ich noch nicht einmal auf die eingegangen, die trotz einer Vorladung und bestellter Dolmetscher nicht zum Termin erschienen, nicht auffindbar, plötzlich unbekannt verzogen sind, ihren Ausweis verloren haben oder deren Identität nicht feststellbar ist. Unwahrscheinlich ist, dass sich die Lage bald entspannt.