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Die Serviette von 1884

Serviette von 1884
Die Serviette von 1884 (Quelle: Rainer Guthknecht)
Die Serviette von 1884 (Quelle: Rainer Guthknecht)

Im Laufe der Jahre haben uns viele Leserinnen und Leser schönes altes Leipzig-Material zukommen lassen, zum Teil gescannte Bilder und Dokumente, zum Teil sogar Originale. Neuestes Stück in der Sammlung ist eine Serviette von 1884, für die wir Rainer ganz herzlich danken. Der Nachfahre der Besitzer des Hauses Petersstraße 24 meldete sich auf unsere Beiträge „Der Grönländer, Teil 1 und 2“ (September 2019), klärte die Haugk-Kühn-Frage zugunsten der Familie Kühn und meinte fröhlich: „Übrigens hätten wir uns 1990 im Grönländer gut begegnen können. Unseren Aufstieg zu den Tauben im Dachboden habe ich gut im Gedächtnis.“

Und während wir dort damals wie die Wilden fotografierten, fand Rainer auf eben jenem Dachboden eine historische Serviette! „Das weitgehend verfallene Geschäftshaus meines Urgroßvaters Paul Kühn war unverschlossen und lud zum Stöbern ein“, erinnert er sich. Rainer stöberte mit musealem Erfolg. Auf der Serviette, welche aus dem Gohliser Schiller-Schlösschen* stammt, hatten drei offensichtlich im Grönländer arbeitende Maurer, Zimmermänner oder Dachdecker ihren Unmut in folgenden Worten festgehalten:

„Diese Arbeit wurde gemacht zur Zeit der Streiks in Leipzig, wir wollten 10stündige Arbeit, sind aber bis dato noch nicht durchgekommen, und die Stunde 33 Pfennig erhielten wir nicht bei Meister Oehler. Gustav Moritz Herrmann aus Leipzig, Alexander Stephanic aus Lindenau, K.W. Kreternitz in Töllnitz, 1884, d. 19. Juni.“ Eine zusätzlich gefundene Karte ist ebenfalls auf diesen Tag datiert, enthält drei weitere Namen und könnte eine Quittung sein.

Außerdem schickte uns Rainer Scans der umfangreichen Paul-Kühn-Kataloge von 1911 und 1925. Paul Kühn betrieb in der Petersstraße 24 eine 1877 gegründete Werkzeug- und Holzwarenfabrik und verkaufte zum Beispiel Leipziger Hobelbänke (!), allgemein Werkzeuge, Bastel- und Gärtnerbedarf, Kleinmöbel sowie Accessoires, also Dekorationsartikel. „Der Versand geschieht gewissenhaft bei sorgfältigster Verpackung auf Gefahr des Bestellers gegen Nachnahme oder Voreinsendung des Betrages. Aufträge bis zu 5 Mark, einschliesslich Porto, führe ich nur gegen Voreinsendung des Betrages auf mein Postscheckkonto Leipzig No. 188 aus. Aufträge über 5 Mark werden gegen Nachnahme ausgeführt, Nachnahmegebühren trage ich“, verkündete Paul Kühn unter anderem.

„Auffällig ist die durchgängig in eigenen Zeichnungen erstellte Darstellung der Produkte verschiedenster Hersteller und die Verwendung eigener Artikelnummern“, bemerkt Rainer. „Diese Handelsware wurde mit Prägestempeln u.a. auf Paul Kühn Leipzig umgelabelt, gern auch mal über das Warenzeichen des Herstellers. So hatte man mehrheitlich eigene Hausmarken-Produkte und die Macht des Händlers. Lediglich die Hobel von Otto Kneisel, Zeitz, dem frühverstorbenen Schwager von Paul Kühn, waren dann durch die Firmenübernahme Eigenprodukte.“ Ein unerschöpfliches Thema! Allein der 1911er Katalog verfügt über 262 Seiten.

Wir danken Rainer noch einmal ausdrücklich, freuen uns auf neue Erkenntnisse zu den Streiks von 1884 und möchten bei der Gelegenheit auch Brigitte, Monika, Susi, Steffi, Andreas, Harald, Jens, Norbert, Holger, Dieter, Reinhard, Tilo, Hans, Frank, Thomas, Holly und alle anderen, die uns geholfen haben und helfen, würdigen! Schaut die Beiträge „Geschenke aus Grünau“ (April 2016), „Matratzen aus Mölkau“ (August 2016), „Stern-Brot aus Eutritzsch“ (Januar 2017), „Aus Susis und Holgers Schatztruhe“ (April 2017), „Fotoalbum von 1929“ (Juni 2017), „Melodie des Westens“ (Mai 2018), „Der Sühneprinz im Stadttheater“ (November 2019) und „Reformen mit Paul“ (Dezember 2019) an – wenn Ihr Lust habt und Zeit dafür findet.

* siehe unseren Beitrag „Beim Dichter gegenüber“ (März 2017)