Aus der Reitzenhainer Straße (später Lenin-, jetzt Prager Straße) ist ein grusliges Lied über einen Würstchenverkäufer überliefert*. Wir hoffen, dass das nichts mit der Fleischerfamilie Kneip zu tun hat, die ihr Geschäft gegenüber der alten Brauerei Offenhauer bis in die Sechziger Jahre hinein betrieb. Zwischen Schaufenster und Haustür war in den Vierzigern zu lesen: „Prima Rind-, Schweine-, Kalb- und Hammelfleisch / elektr. Betrieb / Tel. 65 221“.
Am 18. Oktober 1953 konnte man vorm Kneipschen Laden den Umzug zur 140-Jahr-Feier der Leipziger Völkerschlacht beobachten. Vielleicht schaute seinerzeit sogar Bernd Irmer vis-a-vis aus dem Fenster, er war ein halbes Jahr zuvor im Offenhauerschen Anwesen geboren worden. Von ihm bekamen wir die tollen historischen Bilder, seine Eltern und Großeltern hatten sie fotografiert und schön beschriftet in Alben eingeklebt.
Im Februar 1996 waren wir dann bei Offenhauers fotografieren. Damals stand alles leer – Wohnräume, Gasträume, Nebengebäude. Die Bilder davon findet Ihr in unserem Beitrag „Aktenzeichen L.E. ungelöst II“ (März 2015). Erst nach und nach erfuhren wir, welche Geschichten dahintersteckten, zusammengetragen haben wir die in „Aktenzeichen L.E. ungelöst IIa“ (Mai 2015). Und jetzt meldete sich der oben erwähnte Bernd Irmer mit ergänzenden Dokumenten bei uns!
Familie Irmer wohnte von 1919 bis 1961 über dem Brauerei-Ausschank. Die Toiletten auf dem Hof teilte sie sich mit den anderen Mietern und den mehr oder weniger angetrunkenen Besuchern der Gaststätte, deren Wirt in den Fünfzigern auf den Nachnamen Schuh hörte. Gebraut wurde zu Bernds Kinderzeiten hier schon eine Weile nicht mehr, stattdessen verwandelte nun auf dem Gelände eine Vulkanisierwerkstatt alte Autoreifen in neue.
Das Nachbarhaus war 1944 nach einem Fliegerangriff abgebrannt, beinahe auch das Wohnhaus der Irmers. Zum Glück hatte Bernds Vater eine Brandbombe, die in einem Fenster der zweiten Etage steckengeblieben war, noch auf die Straße werfen können. Bernds Mutter arbeitete seinerzeit bei Fleischer Kneip – aufgrund der räumlichen Nähe lernten sich die Eltern irgendwann kennen. Jahre später, 1961, zogen sie mit ihrem Sohn von Thonberg nach Schönefeld, von der Lenin- in die Gorkistraße.
Glücklicherweise hat Familie Irmer den Mietvertrag von 1919 aufbewahrt, dazu Ergänzungen von 1939, 1945 und 1952, das Quittungsbuch über die Mietzahlungen sowie einen Zuweisungsschein von 1952, mit dem die Eltern die Wohnung der Großeltern übernehmen durften. Anfangs betrug die Miete 30 Mark pro Monat, während der Inflation 1923 waren dann Millionen fällig.
Im Nachtrag vom 20. Mai 1939 ist festgehalten: „Infolge Errichtung einer automatischen elektrischen Treppenhausbeleuchtung mit Nachtbeleuchtung und Zuleitung zum Anschluß der Lichtanlage der Wohnung erhöht sich die Wohnungsmiete um M 1,50 monatlich. Die Miete für die Wohnung beträgt demnach ab 1. Juli 1939 M 23,15 pro Monat.“
Am 1. November 1945 wird ergänzt: „Durch Übernahme 1 Kammer, die bisher zu der Nebenwohnung gehörte, erhöht sich die Wohnungsmiete ab 1. November 1945 von monatlich M 22,45 auf monatlich M 25,30.“ Und am 14. Februar 1952 erklärt sich der Mieter Gerhard Irmer bereit, „zu den Kosten eines ihm gelieferten neuen Küchenherdes DM 50,- beizutragen, zahlbar in 5 Monatsraten ab März 1953 zu je DM 10,-.“
Anmerkung 1: Die im Laufe der Zeit zahlenmäßig sinkende Miete erklärt sich mit Währungsreformen.
Anmerkung 2: Die ursprünglichen Mieter (Irmer) und Vermieter (Offenhauer) hießen beide Moritz mit Vornamen.
Herzlichen Dank an Bernd Irmer!
* In dr Reidzenhainer Schdraße
haddsj ä Wärschdjnmann erbummeld.
Warum haddr sich erbummeld?
Weilr Leide hadd beschummeld.“
zitiert nach „Liederliches Leipzig“ (1985) von Brigitte Richter und Bernd-Lutz Lange
Unser Freund Peter hat noch eine andere Version geschickt:
In der Reitzenhainer Straße
hatssch der Würstchenmann erhängt.
Warum hat er sich erhängt?
Weil er Würstchen hat verschenkt.
siehe auch unseren Beitrag „Prager Straße 1992“ (Juli 2017) mit weiteren historischen Fotos aus genau dieser Gegend von Norbert und Tilo