„Ich bin geborener Leipziger, dessen Herz immer noch sehr an seiner Heimatstadt hängt“, mailte Hans-Joachim Kieseler von der Insel Rügen. Und er schickte ein interessantes Foto des inzwischen abgerissenen Hauses Knauthainer Straße 18 sowie ein noch interessanteres Video. Letzteres stammt aus dem Sommer 2001. Hans-Joachim besucht mit seiner Frau das besagte verlassene Gebäude; alle Türen stehen offen, der Hof ist Beute der Natur geworden. Durch eingeschlagene Fenster scheint die Sonne von Kleinzschocher, wir sehen Herde, Ölsockel und Öfen, Tapeten von früher und Bäume auf dem Dach. Draußen am Haus ist Kohlenhandlung August Kieseler zu lesen.
„Das Haus wurde 1912 gebaut“, weiß Hans-Joachim, „Bauherr war eine Leipziger Terraingesellschaft mit Sitz in der Nonnenmühlgasse 2. Die Knauthainer Straße 18 ist das Geburtshaus meines Vaters. Es war 1913 schon bewohnt.“ 1914 führen die Adressbücher den Privatmann O. Schultze aus der Brockhausstraße 20 als Eigentümer. Ein Verwandter von Hans-Joachim wird als Mieter genannt, Urgroßonkel August Kieseler (1887-1968), seines Zeichens Fuhrwerksbesitzer. Fünf Jahre später kauft der nunmehrige Kohlenhändler August Kieseler die Immobilie für 24.000 Goldmark. Sie blieb bis 2020 im Besitz einer großen Erbengemeinschaft Kieseler. „Über die Jahre wohnten viele Familienangehörige in diesem Haus“, erzählt der freundliche Nachfahre.
Und er fährt unterhaltsam fort: „Kieselers waren in Kleinzschocher sehr bekannt. Rudi Kieseler hatte ein Gemüsegeschäft in der Gießerstraße, links neben Mätzschkers Festsälen. Hermann Kieseler hatte ein Gemüsegeschäft in der Dieskaustraße, Ecke Neue Straße. Und Max Kieseler hatte ein Gemüsegeschäft in Altlindenau in der Siemeringstraße 1, Nähe Lützner Straße. Wenn ich im Urlaub auf Leipziger treffe und mich vorstelle, kommt meist die Frage, ob ich mit den ‚Gemüsefritzen‘ aus Kleinzschocher verwandt bin.“
Noch einmal gehen Hans-Joachims Gedanken zurück in die Knauthainer Straße: „Nach dem Krieg war das Fenster zum Güterbahnhof ein guter Aussichtspunkt. Da wurde erkundet, was die Waggons geladen hatten. Das hat das Klauen effektiv gemacht. Die Knauthainer Straße 18 war auch gut zum Schmierestehen geeignet!“ Von diesen Worten angeregt, erinnern wir uns an ein Gespräch mit dem Archivar der Lindenauer Liebfrauenkirche am Plagwitzer Bahnhof (siehe unseren Beitrag „Die Hilfsschule West II“ vom Juni 2014). Der hatte uns Einblick in die Kirchenchronik gewährt: „Es beginnt ein immer stärkeres Wegschleppen und Raffen – zuerst mit den Händen, dann mit kleinen und immer größeren Handwagen und Karren!“
Nun erkundigten wir uns bei Hans-Joachim, der von der Knauthainer Straße auf die selben weiträumigen Bahnanlagen schaute wie der Chronist der Liebfrauenkirche, was damals so alles geklaut wurde. „Geklaut wurde alles Essbare und natürlich Brennmaterial. Der Winter 1946/47 war ja der kälteste im 20. Jahrhundert. Vom Fenster aus erkennbar war natürlich alles, was in offenen Loren transportiert wurde. Es war jedoch nicht einfach, da das Bahnhofsgelände schwer bewacht wurde.“
Ebenfalls schwer bewacht wurde bis in die 1990er Jahre die Russenkaserne an der Lützner Straße, ehemals zwischen Schönau und Miltitz gelegen, später mitten in Grünau. Hans-Joachim erinnert sich an die Bushaltestelle Windmühle Miltitz. „Die befand sich links neben der Kaserne, gegenüber stand das Restaurant ‚Zur Mühle‘.“ Heute heißt es „Kolossos“ und pflegt die griechische Kochkultur, die Mühle hingegen ist verschwunden. Zum Glück hat der Leipziger auf Rügen noch ein historisches Foto gefunden! „Wir waren als Kinder oft in Miltitz. Die Russen standen am Zaun und gaben uns Geld, damit wir in der ‚Mühle‘ Wodka für sie kaufen. Wir durften dann das Wechselgeld behalten.“ Verrückt!
„Auf dem Foto das bin ich“, verrät Hans-Joachim. „Ich habe ja in Lindenau gewohnt, Wiprechtstraße 9, mit Blick auf die Jutespinnerei. Ich weiß, dass 1930 die Wiprechtstraße noch als Baustelle ausgewiesen war. Erst 1931 gab es Bewohner in der Nr. 9, unter anderem meine Großeltern.“ Noch vor dem großen Wintereinbruch sind wir die durch einen Schulneubau zweigeteilte Knauthainer Straße entlanggelaufen und wollen demnächst auch die einstigen Gemüseläden ablichten. Einen haben wir schon, die heutige Gaststätte „Kiew“. Hans-Joachim sandte uns dazu eine beinahe 26 Jahre alte Aufnahme aus dem Familienarchiv. Sie „zeigt die Neueröffnung des Nachfolgers von Rudi Kieseler. Auf dem Schaufenster ist zu lesen: 20.03.1995″. Rudi Kieseler hatte sein Geschäft im gleichen Jahr abgegeben und war zum Neuanfang eingeladen gewesen, weswegen er auf dem Bild auch zu sehen ist.
Herzlichen Dank an Hans-Joachim Kieseler! +++ Schaut Euch im Zusammenhang mit Mühle und Kaserne auch unseren Beitrag „Geschenke aus Grünau“ (April 2016) an.