Bücher Leute

Dem Dichter auf den Leim gegangen

Dem Dichter auf den Leim gegangen

Aus einer alten Angewohnheit heraus lesen wir in Büchern, die über ein solches verfügen, das Nachwort zuerst. Wir erhoffen uns Informationen zu Text und Autor, die uns dann bei der eigentlichen Lektüre zum Vorteil gereichen. Das neue Buch des in Eutritzsch lebenden Bertram Reinecke, „Geschlossene Vorgänge – Über einige biografische Artefakte etc.“ (erschienen im Verlag von Urs Engeler), enthält so ein Nachwort! „Eine Kindheit auf dem Land ist vor allem eines: langweilig. Da ändert es auch nichts, wenn der Ort am Meer liegt. Die Abwesenheit der Touristen nach dem Sommer macht die Langeweile in den dunklen Monaten erst richtig fühlbar.“ Mit diesen Sätzen beginnt es. Der Autor, von dem wir wissen, dass er in der Nähe von Neubrandenburg aufgewachsen ist und seine Studienzeit in Greifswald verbracht hat, erläutert also selbst. Zügig lesen wir weiter, von Einsamkeit, kindlicher Flucht in die Abenteuerliteratur sowie einer Tätigkeit als Aktenvernichter. Spätestens, als dieser Aktenvernichter einräumt, nicht alle Akten vernichtet, sondern die, die ihm interessant erschienen, mit nach Hause genommen zu haben, bemerken wir, dass wir dem Dichter auf den Leim gegangen sind. Das Nachwort ist im vorliegenden Falle Literatur, Fiktion, ausgedacht.

Gut, nun agieren wir vorsichtiger und erkennen ohne größere Schwierigkeiten: Biografisch heißt nicht autobiografisch und Artefakte können ebenso Fund- wie Kunststücke sein. Eines davon verdanken wir Mechanikos, der seinerseits die sagenhaften Daidalos und Ikaros bei ihrem Flug zur Sonne beobachten konnte. Er hat das Unglück mit eigenen Augen gesehen und sich Gedanken darüber gemacht. Die schildert er einem ganzen Kreis von Zuhörern auf anschauliche und nachvollziehbare Art und Weise. Mechanikos ist auf dem neuesten Stand des Wissens der alten Griechen. Ikaros‘ Vater Daidalos kommt bei ihm nicht gut weg. Wir wähnen uns ganz auf Mechanikos‘ Seite, auch als wir die anonyme Gegenrede hören (= lesen), welche unangenehmerweise genauso plausibel erscheint. So ein Mist! Auch der Andere hat sich Gedanken gemacht, das Für und Wider abgewogen, allerdings zog er nicht die selben Schlüsse. Was nun?

Nun springen wir nach Anhalt-Bernburg und landen im Jahr 1817. Da schickt sich ein Schulmann namens Gottfried an, ein Schriftstück aus dem antiken Griechenland zu entziffern und zu übersetzen. Je länger er daran arbeitet, desto größer werden seine Zweifel. Ob es sich hier wirklich um ein Fragment der Sappho handelt? Seinem Freunde Feldmann berichtet er brieflich davon nach Altona; sogar Leipzig wird kurz erwähnt, in Sachen Buchbeschaffung, allerdings ist dem Schul- und erst recht dem Feldmann in dieser Sache Hamburg näher. – Bertram Reinecke trifft erneut einen angenehm ungekünstelten Ton, er schreibt, wie 1817 wohl geschrieben worden wäre und erklärt uns, dem Publikum, darüber hinaus nichts. Erstens traut er uns was zu und zweitens muss man einen literarischen Text auch nicht hundertprozentig verstehen, um dessen Schöpfer „mit Glimpf zu bedenken“.

Die beiden letzten Texte handeln an der Ostsee. Am Mönchsguter Kliff bringt eine/r (vielleicht auch mehrere) die herumliegenden Steine unentwegt in ihre Ausgangslage zurück. Wann? Warum? Und woher hat er bzw. sie das Wissen? Der oder die „Hüter der Steine“ stellen ähnlich den verbreiteten Regionalkrimis ein Rätsel der Gegenwart dar. Die Ostseezeitung berichtet, im Nachwort wird auf diesen Artikel Bezug genommen. Das literarische Ich erscheint als einsamer Zeuge, der vor allem Bücher liest und beruflich Akten vernichtet, jedoch – wie wir schon wissen – nicht alle. // Als Verleger hat Schriftsteller Reinecke im Vorjahr für kräftiges Rauschen im Blätterwalde gesorgt. Die „Feuilletons der großen Zeitungen“ (wie MDR Kultur sagen würde – was ist mit den kleinen und was überhaupt macht eine Zeitung groß?) würdigten die bei Reinecke & Voß erschienene Kritische Ausgabe der Werke, Briefe und Dokumente Sibylla Schwarzens. Die „frühreife“ Greifswalder Dichterin (1621-1638) wurde u.a. als „pommersche Sappho“ bezeichnet. Mein lieber Feldmann …

siehe auch unsere Beiträge „Leere Container“ (Dezember 2017) und „Vor der Buchmesse 3“ (März 2019)