(A.H.) Ende des 19. Jahrhundert vergrößerte sich in Leipzig mit dem Aufblühen der Lebensreformbewegung die kulinarische und später auch textile Vielfalt im Warenverkehr. Ein „Rohköstler der ersten Stunde“ war Paul Garms. Nachfolgend einige Anmerkungen zu seinem Wirken in Verbindung mit dem Begriff Thalysia. Paul Erich Garms erblickte am 20. Oktober 1870 in Deutsch-Krone (Ostpreußen) das Licht der Welt. Im elterlichen Unternehmen erkundete er die Geheimnisse der Schwarzen Kunst und absolvierte eine Buchdruckerlehre. Über die Stationen Essen und Bochum gelangte er als Korrektor in einen Leipziger Druckereibetrieb. Dann drängte ihn eine Erkrankung zum Handeln, und dazu war es von Vorteil, ein Speiselokal namens Thalysia zu kennen.
Am heutigen Kreuzungsbereich Martin-Luther-Ring / Ecke Harkortstraße befand sich vor 140 Jahren ein kleines zweigeschossiges Haus, unmittelbar neben der 1884 abgebrochenen Roten Wasserkunst, einem ehemaligen Schöpfwerk zur Trinkwasserversorgung. An dem seinerzeit idyllischen Fleck unweit der Pleißenburg, die Nonnenmühle und das Pleißenwehr lagen direkt gegenüber, eröffnete Carl August Claus 1876 eine Wirtschaft unter der Adresse Harkortstraße 16. Als sich der Leipziger Vegetarier-Verein dort 1879 sein Vereinshaus einrichtete, konnte Gastwirt Claus zur Versorgung der Mitglieder gewonnen werden.
Hier kommt die Bezeichnung „Thalysia“ ins Spiel, die vermutlich auf Eduard Wilhelm Baltzer (1814-1887) zurückzuführen ist. Auf dessen Bestreben gründete sich in Deutschland der erste Vegetarier-Verein. Balzer war ein Pionier der Lebensreform-Bewegung, von ihm stammt der Ausdruck des „Thalysianismus“, womit die „natürliche Lebensweise“ der Vegetarier gemeint war. Baltzer war ebenso Herausgeber der Zeitschrift „Vegetarianer“, dem ersten Vegetarier-Blatt in Deutschland. Nach Baltzers Tod erhielt das Journal den Titel „Thalysia“. Das Wort kommt ursprünglich aus dem Griechischen, in der Antike wurde unter dem Begriff das Erntedankfest zu Ehren der Göttin Demeter gefeiert.
Am 1. Januar 1879 bekam das Speiselokal von Carl Claus in der Harkortstraße ebenfalls den Namen „Thalysia“. Der nach Heilung suchende Paul Garms entschied sich für eine naturbelassene Vorgehensweise und kam so unweigerlich mit diser Gaststätte in Kontakt. Da entfalteten sich seine vegetarische Leidenschaft und das Bewusstsein für die Naturheilkunde. Hingegen hatte der Thalysia-Eigner Claus beschlossen, grüne Lebensräume in weiter Ferne zu erschließen. Er trachtete nach Tropensonne und paradiesischem Leben, machte sich 1887 in den brasilianischen Urwald auf – und blieb verschollen.
So übernahm am 8. Mai 1888 Johann Georg Haug das „Thalysia“, jedoch mit der Anschrift Mühlgasse 2. Als letztes Haus in der Harkortstraße war es schon 1884 der benachbarten Mühlgasse angegliedert worden, der heutigen Nonnenmühlgasse. Paul Garms unterzog sich einer sogenannten Kuhne-Kur, sie war damals eine Sensation. Louis Kuhne (1835-1901), Protagonist der Wasserheilkunde eines Theodor Hahn und Sebastian Kneipp, erregte mit seinen Sitzreibebädern überall Aufsehen und galt als einer der Naturheilapostel. Seine Heilanstalt am Floßplatz 24 existierte noch bis nach 1949.
Neben Garms absolvierte auch Gastwirt Haug die Kuhne-Kur, worauf sich sein Nierenleiden verflüchtigte. Kuhne empfahl Nährmittel wie Schrotbrot, Haferpräparate und Ähnliches, die waren damals jedoch so gut wie nicht verfügbar. Für den Erwerb solcher Naturalien richtet Georg Haug in seinem Lokal einen Laden ein. Die Zubereitung der wohlschmeckenden Mehlspeisen für die Gaststube lag in den Händen von Haugs Gattin. Die Schrotbrot-Obst-Diäten waren der Renner und bald eine Spezialität im „Thalysia“. In der Zeit bedurfte es der Bewirtung von über 200 Gästen – pro Tag. Es lief wie geschmiert, wie es damals hieß. Das „Thalysia“ hatte sich zu einer bekannten und gut besuchten Lokalität gemausert.
Um die Jahrhundertwende verbreitet sich ein wahrer Naturheil-Trend, dafür sorgte auch die zahlreiche Reklame durch die mit der Thematik befassten Vereine, Personen und Unternehmen. Alles zusammen brachte der Bewegung einen kolossalen Auftrieb. Naturheilkundler und Lebensreformer versuchten allerorten, mit ihren Ideen die Menschen zu begeistern. Eine weitere Schlüsselfigur neben Kuhne und Kneipp war Friedrich Eduard Bilz (1842-1922), er schaffte es vom einfachen Weber zum Naturheil-Millionär. Bilz betrieb Badeanstalten und Sanatorien, verkaufte Reform-Nahrungsmittel und erreichte mit seinen in zwölf Sprachen übersetzten Büchern eine Auflage von 3,5 Millionen Exemplaren. So konnten etwa die Leipziger nach der Bilz-Methode in der Volkmarsdorfer Elisabethstraße 27 in die Wannen tauchen.
Mit dem oben beschriebenen Zeitgeist ergaben sich optimale Voraussetzungen für Paul Garms, um seiner naturgemäßen Passion eine unternehmerische Note hinzuzufügen. Nach einem Zwischenstopp in München gelangte er nach Dresden und nahm eine Anstellung als Faktor in einer Buchdruckerei an. Das vegetarische Verlangen befriedigte Garms im Dresdner „Pomona“, wo er auch seine spätere Frau Amalie Knirsch kennenlernte. 1895 ging es zurück nach Leipzig zu seiner früheren Firma, wo er mit erst 25 Jahren die Position als Oberfaktor erklomm. Garms damaliges Einkommen betrug 5.000 Mark jährlich – das junge Paar heiratete.
(wird fortgesetzt)
Nachbemerkung 1: Wir danken Hans für das Material und den Anstoß, Andreas für den aufwändigen, insgesamt vierteiligen Beitrag und Frank für die fachlichen Hinweise und Korrekturen!
Nachbemerkung 2: Auf der Knöterich-Thee-Anzeige sind neben den Geschäften Neumarkt 40 und Rathausring 1 auch Filialen in Gohlis, Plagwitz, Volkmarsdorf und Neureudnitz vermerkt.