(A.H.) In der Wintergartenstraße 13 wird das ehemalige Hotel Bayrischer Hof umgebaut. Zwar wird außer der Fassade nicht mehr viel übrig bleiben, aber erstens teilt das Haus so auch nur das Schicksal vieler historischer Gebäude Leipzigs und gaukelt zweitens dem geneigten Betrachter eine dicke Ladung Geschichte hinter den Mauern vor. Und die Geschichte wollen wir hier mal unter die Lupe nehmen. Friedrich Ludwig Degener, Inhaber einer Indigo- und Farbwarenhandlung, ließ um 1852 auf dem Standort ein zweigeschossiges Gebäude errichten bzw. war der erste Besitzer. Bis dahin gab es gerade drei Häuser in der Wintergartenstraße, das Degenersche erhielt somit die Hausnummer 4.
Bis 1858 hatte sich die Anzahl der Häuser in der Wintergartenstraße verdoppelt. Ein guter Grund, neue Hausnummern zu verteilen, 1859 wurde aus der Nummer 4 die Nummer 6. Das Bauwerk wechselt 1862/63 den Besitzer, von da an ist dort Heinrich Münch mit einer Kolonialwarenhandlung präsent. 1874 verkauft Münch sein Haus samt Geschäft an Heinrich Rudolph Frieling, letzterer führt das Unternehmen seines Vorgängers als Firma Heinrich Münch Nachfolger fort. In dieser Zeit entstanden auch erste Anbauten im hinteren Bereich des Grundstücks. Eine erneute Änderung der Nummer stand 1885 ins Haus, nun wird nicht mehr in Hufeisenform nummeriert, sondern vom heutigen Georgiring in Richtung Osten, rechts mit geraden und links mit ungeraden Nummern. „Unser“ Haus steht stadtauswärts links und bekommt die Nummer 13.
Erste größere bauliche Veränderungen finden 1887 statt. Diese betreffen noch nicht das Vorderhaus in der Wintergartenstraße, sondern zuerst den hinteren Bereich. Im „Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig 1887“ ist nachzulesen, dass ein Neubau, bestehend aus Vorderwohngebäude mit Seitenflügel, entstanden ist. Ergänzend teilt uns das Adressbuch mit, dass den neuen Nutzern vier Etagen zur Verfügung stehen. Das ganze Gebilde erhält nun zwar mit Georgenstraße 3 eine separate Anschrift, trotzdem bilden die Baulichkeiten mit dem Gebäude Wintergartenstraße 13 eine Einheit.
Zurück zum Vorderhaus: Im Laufe des Jahres 1888 wurde das alte Gebäude abgerissen und neu errichtet, wie dem „Verwaltungsbericht der Stadt Leipzig 1890“ zu entnehmen ist. Es verfügt nun über drei Etagen mit ausgebautem Dachgeschoss, drei Wohnungen sowie fünf Verkaufsläden. Bauherr Heinrich Rudolph Frieling hatte 1888 das Amt eines Stadtrats inne und residierte derweilen in der noblen Bismarckstraße 15 (heute Ferdinand-Lassalle-Straße). Die Kolonialwarenhandlung Münch wurde bis Ende März 1888 am alten Standort weitergeführt und dann an den Brühl 3 verlegt.
Die Läden im neuerbauten Haus wurden zuerst von einem Schuhmacher, einer Ofen- und Gusswarenhandlung sowie einer Kammwarenhandlung und einer Backwarenverkaufsstelle genutzt. Die oberen Etagen waren vom Deutschen Kellnerbund belegt, zwei Geschosse für deren Vereinslokalitäten und in der dritten Etage im Dachgeschoss Büros. 1889 sind zwei weitere Läden in der Erdgeschosszone vermietet, an eine Blumen- und eine Zigarrenhandlung. Ein Jahr später kommt mit einer Korsett- und Damenbedarfsartikel-Handlung eine weitere hinzu. Somit teilen sich Anfang der 1890er Jahre sieben Händler die zur Verfügung stehende Verkaufsfläche. Damit ist ein Höchststand erreicht, in den darauffolgenden Jahren nivelliert sich die Nutzung im Erdgeschoss auf fünf bis sechs Ladeneinheiten. Ein erster Hinweis auf eine gastronomische Nutzung im Gebäude findet sich 1896 im Leipziger Adressbuch, Peter Büchel eröffnet 1895 ein Wiener Café.
Da der Gebäudekomplex später umgebaut wurde, lohnt ein Blick auf den Ursprungszustand. Auf einer Postkarte von etwa 1897/1910 ist die Nummer 13 im Hintergrund zu erkennen, sie ist das dritte Haus von rechts. Der Blick geht Richtung Hauptbahnhof, vorn rechts ist das Vordergebäude des zerstörten Krystallpalasts zu sehen. Wir erkennen die Wintergartenstraße 13 als ein siebenachsiges Gebäude mit Mansarddach. Diese Dachform wurde später zumindest im Bereich Wintergartenstraße verändert.
Im Laufe des Jahres 1898 wird ein Hotelbetrieb aufgenommen, Gastwirt Johann Friedrich Mangatter mietet sich auf drei Etagen ein – ein Name für die Einrichtung findet sich noch nicht. Peter Büchels Café-Betrieb läuft derzeit parallel. Einen ersten Beleg für ein Hotel „König Albert“ gibt eine Reklamekarte, welche 1899 abgeschickt wurde. Erst 1901 findet sich im Adressbuch für J.F. Mangatters Gastronomie die Bezeichnung „König Albert“. Das Wiener Café gehört noch nicht zum Hotelbetrieb, allerdings wird es nun von Büchels Gattin Marie geführt.
Mangatter gab sein Geschäft 1903 an Paul Kretschmer ab, wie aus dem Häuserverzeichnis des Leipziger Adressbuchs für 1904 hervorgeht. Nun taucht das Hotel hier auch mit Namen auf. Mit Bernhard Dittrich setzt Hotelier Kretschmer zudem einen Geschäftsführer ein. Vermutlich hatte er wenig Zeit, da er auch noch das Zigarrengeschäft Paul Grimm Nachfolger im Erdgeschoss betrieb. Zwischenzeitlich hat Witwe Büchel das Café aufgegeben – es wurde 1903 dem Hotelbetrieb angegliedert. In letzteren war übrigens 1905 das Bett ab 1,75 Mark zu haben.
Die gewerbliche Nutzung der Anlage beschränkte sich nicht nur auf das Haus Wintergartenstraße 13, im „Seitenflügel“ Georgenstraße 3 wurden zumindest im Erdgeschoss Büros vermietet. So verlagerte 1906 die Leipziger Dampfrosshaarspinnerei Hermann Staude & Co. ihr Kontor von der um die Ecke gelegenen Hofmeisterstraße 1 in die Georgenstraße 3. Mittlerweile waren die Gebäude im nördlichen Bereich der Georgenstraße im Zuge des Hauptbahnhofneubaus abgerissen, das verbleibende Reststück der Straße erhielt am 1. Januar 1909 den Namen Hahnekamm.
1911 finden umfangreiche Veränderungen statt, welche sich aus den Angaben des Leipziger Adressbuchs für 1912 ableiten lassen. Einmal wechselt der Eigentümer, Heinrich Rudolph Frieling verkauft seine Baulichkeiten an den Brauerei-Vertreter Max Sickert. Das Hotel „König Albert“ geht nun in den Hände von C. Müller über. Langjährige Gewerbemieter wie der Tabakladen Paul Grimm Nachfolger und die Filiale der Bäckerei Oelmann aus der Eisenbahnstraße 69 müssen weichen.
Im Laufe des Jahres 1912 übernimmt Georg Herbold die Beherbergungsstätte, er war zuvor Direktor des Hotels „Fürstenhof“ am Tröndlinring. Von da an kommt der Name Hotel Bayerscher Hof zum Tragen (bis 1925, dann Bayerischer Hof und seit mindestens Ende 1928 Bayrischer Hof). Die Adresse Hahnekamm 3 fällt weg, dieser Teil gehört nun wieder wie bis 1887 zur Wintergartenstraße 13. All diese Angaben aus dem Adressbuch suggerieren, dass 1912 möglicherweise ein Teil oder der ganze Gebäudekomplex umgebaut wurde. Dabei könnte auch die Fassade und Dachform an der Wintergartenstraße das heute bekannte Aussehen erlangt haben. Im Gegensatz zum Neubau von 1888 präsentiert sich das dreiflügelige Bauwerk aktuell im Reformstil. Detaillierte Informationen dazu sowie zur allgemeinen Baugeschichte des ganzen Grundstücks hat sicher die Bauakte zu bieten.
1916 ist Georg Herbold nicht mehr Direktor, sondern Paul Sonntag, welcher zuvor das „Echte Bierhaus Große Feuerkugel“ am Neumarkt 3 führte. Ein Jahr später kommt es erneut zu einem Betreiberwechsel, 1917 übernimmt mit Katharina Poetzsch eine Frau die Leitung des Hotels. Ab 1918 wirkt Carl Schade, er wird das Haus über 20 Jahre lang führen. Außerdem erwirbt er von Vorbesitzer Sickert die Baulichkeiten in der Wintergartenstraße 13.
An der Nutzung des Hauses Wintergartenstraße 13 änderte sich bis Mitte der 1940er Jahre nichts wesentlich. Vermutlich wurden die Läden im Erdgeschoss nach 1945/46 nicht mehr vermietet. Zwischen 1953 und 1954 wurde das Hotel der HO (Staatliche Handelsorganisation) angegliedert, im Branchenfernsprechbuch von 1955 wird das Hotel schon als HO-Betrieb erwähnt. Dieser Betreiber führte das Hotel bis in die 1990er Jahre. Für ein kurzzeitiges Gastronomie-Intermezzo sorgte bis nach 1995 noch das Restaurant Michele. Ab Mitte der 1990er Jahre zeichnete sich die einstige Hotelanlage dann durch Leerstand und wiederholte Brandstiftung aus, so im Mai 1998 und August 2008. Mit dem aktuellen Umbau erfährt das Gebäude Rettung in letzter Minute. Leipzig kann sich somit auf ein weiteres Stück sanierter Baugeschichte vorfreuen.
Apropos Hotel und Wintergartenstraße: Durch die Nähe zu Bahnhof war diese Gegend für das Beherbergungsgewerbe ein lukrativer Standort. Neben dem Hotel „Bayrischer Hof“ gab es noch eine Menge anderer Übernachtungsmöglichkeiten. An der nördlichen Straßenseite ging es mit dem Hotel Continental (heute Victor’s Residenz-Hotel) am Georgiring 13 los, in der Wintergartenstraße 9 befand sich um 1905/06 das Hotel Viktoria, welches später als Hotel garni bis etwa 1920 Quartiere anbot (Gebäude 1999 abgerissen). Ein Haus weiter in der Nummer 11 lockte seit etwa 1896 das Carola-Hotel Gäste an, um 1916 firmierte es als Hotel Carola und wurde bis mindestens 1932 betrieben. 1950 finden wir hier das Fremdenheim Fessler-Walkowski und 1963 das Fremdenheim Anderegg.
Die Südseite der Wintergartenstraße war zur Ecke Georgiring ebenfalls mit einem Hotel flankiert, das im Krieg beschädigte Hotel „Stadt Rom“ wurde 1969 gesprengt und bis dahin genutzt. Auch in der folgenden Nummer 4 standen Betten parat, so 1905 in der Pension Wagner, 1919 im Hotel garni Grass oder 1963 im Fremdenheim Bruhn (Haus 1969 abgerissen). Das Gasthaus „Stadt Dresden“ in der Wintergartenstraße 8 lässt sich von 1912 bis 1938 nachweisen, als Hotel „Stadt Dresden“ wurde es 1963 bezeichnet (Haus 1969 abgerissen). Schräg gegenüber vom Bayrischen Hof befand sich um 1890 Hoffmann’s Hotel in der Wintergartenstraße 14. Ab etwa 1913 firmierte es als Hotel Fröhlich und erlangte als vorerst letzte Ausschankstätte der Leipziger Gose in den 1960er Jahren eine gewisse Bekanntheit (Haus nach 1965 abgerissen). Zu erwähnen wäre dann noch das Hotel „Herzog Ernst“, es befand sich am Hahnekamm 1. Dort konnte von vor 1894 bis nach 1963 in Morpheus Armen geruht werden.
Zum Schluss noch einige Anmerkungen zu unserem Artikel „Der Bayrische Hof“ vom 5. Oktober 2017: Ein Hinweis auf die Bezeichnung „Zum goldenen Hut“ mit Inhaber Ferdinand Doß als Vorläufer zum Bayrischen Hof lässt sich nicht finden. In der Publikation „Wirtliches an der Pleiße“ von Helmut-Henning Schimpfermann wird das ja auf Seite 149 erwähnt. Allerdings findet sich auf Seite 129 ein ähnlicher Eintrag mit der Adresse Königsplatz ohne Angabe der Hausnummer. Dort gab es in der Nummer 16 tatsächlich einen Gasthof, er führte von 1815 bis etwa 1842 den Namen „Goldener Hut“, ab 1842 nannte er sich „Bairischer Hof“ und seit 1847 „Münchener Hof“ (1914 Abbruch und Neubau Warenhaus Gebrüder Ury, 1943 zerstört – seitdem Gebüsch & Parkplatz). Einen weiteren Hut finden wir in der Reichsstraße. Schon vor 1598 wurde ein Gasthof „Zum Goldenen Hut“ in der Reichsstraße 24 erwähnt. Der Name wurde auch als Hausname beibehalten. Von mindestens 1908 bis 1943 führte die dort ansässige Gaststätte ebenfalls diese Bezeichnung. Im benachbarten Goldhahngässchen 6 gab es zwischen 1893 und 1907 ein Restaurant „Goldener Hut“, später bekannt als Taubenschlag. Damit endet zumindest für Alt-Leipzig der Ausflug zum Thema Kopfbedeckungen in der Gastronomie als Kneipen-Terminus.