(A.H.) An der Grenze zu Leipzig auf Reudnitzer Flur wurde 1840 vom Zimmermeister C.F. Lüderin für den Reudnitzer Konditor und Pfefferkuchenbäcker Carl Hermann Felsche ein Wohn- und Geschäftshaus im italienischen Palazzo-Stil erbaut. Es war eines der seltenen Zeugnisse Leipziger Biedermeier-Architektur und zudem ein Eckpfeiler der Stadterweiterungskonzeption des damaligen Baudirektors Albert Geutebrück. Während die beiden Obergeschosse als Wohnraum für Familie Felsche dienten, zauberte der Meister im Erdgeschoss seine Leckereien zusammen und kredenzte sie dort seinen Gästen.
(Am Rande sei erwähnt, das unser „Kramer und Conditor“ Carl Hermann Felsche aus Reudnitz nicht mit dem späteren „Königlich-Sächsischen Hof-Conditor“ Carl Heinrich Wilhelm Felsche vom „Café Francais“ am Augustusplatz in Leipzig verwechselt werden sollte.)
18 Jahre später beherbergte das Haus eine kommende musikalische Berühmtheit. Der norwegische Student Edvard Grieg (1843-1907) wohnte ab 1858 als Untermieter bei Frau Bochmann, um am Konservatorium in Leipzig bis 1862 Klavier und Komposition zu studieren. Schon zu Lebzeiten erlangte Grieg als Pianist und Komponist mit seinen Klavierkonzerten, Streichquartetten und Sonaten weltweite Bedeutung. Besonders populär wurde er mit seinen beiden Orchestersuiten zu Henrik Ibsens „Peer Gynt“, wobei die erste Suite in der Dachgeschosswohnung des Musikverlags C.F. Peters in der Talstraße 10 entstand und 1888 unter der Leitung des Gewandhauskapellmeisters Carl Reinecke im Leipziger Gewandhaus uraufgeführt wurde.
Postalisch lag Felsches Haus bis 1869 in der Reudnitzer Grenzgasse 86, welche ab 1895 zur Reudnitzer Chausseestraße 2 wurde (bis 1898 auch als Nummer 1b bezeichnet), erst einige Jahre nach der Eingemeindung von Reudnitz wurde die Chausseestraße umbenannt, ab 1899 hatte der Postbote die Kuchenbestellungen dann in der Dresdner Straße 27 abzuliefern. Zu der Zeit war die Konditorei längst verpachtet, 1889 wirkte Konditor Gustav Hermann Rothe, ab 1890 warb die „Conditorei mit Schankwirtschaft“ von Wilhelm Biermann um Kundenzuspruch. Zudem betrieb etwa ab 1895 in einem kleinen Seitengebäude im Hof die Firma C. Schmidt eine Eisenmöbelfabrik.
Seit 1918 war das Anwesen im Besitz der Stadt Leipzig, doch schon ein Jahr später gehörte es der Universität und blieb bis mindestens 1945 in deren Besitz. Im Gebäude selbst wohnten noch lange Jahre Mitglieder der Familie Felsche. Für eine gewerbliche Nutzung der Gemäuer sorgte neben der langjährigen Konditorei ab 1921 und bis mindestens 1943 auch das Architekturbüro von Hans Böhme. Um 1934 wechselten übrigens die Inhaber an der Torten-Theke, von nun an war die Konditorei Erich Hänig für den Nachschub an Kaffee und Kuchen im Viertel zuständig.
Die Wirren des Krieges muss das Haus ganz gut überstanden haben, die Konditorei und das Kaffeehaus Hänig existierten weiterhin, darüber hinaus fertigte Charlotte Giebner 1949 vor Ort in ihrer kunstgewerblichen Werkstatt Lampenschirme an. Nach 1960 kam dann das Aus für Hänig, vor 1963 war die staatliche Handelsorganisation HO mit dem „Café petit“ präsent. Dieses erfreute sich allerdings in der Gegend einer gewissen Beliebtheit, vor allem bei vielen Beschäftigten der umliegenden graphischen Betriebe. Mit der 1973 erfolgten Ernennung zum Architekturdenkmal hätte Felsches ehemaliger Kaffeetempel und Griegs Studentenbude eine gute Chance gehabt, sich unauffällig durch die sozialistische Planwirtschaft zu mogeln, und wenn auch schwer gezeichnet, aber so doch wenigsten lebendig in der neuen Zeit auf Wiederbeatmung zu hoffen. Leider kam es anders.
Der weitere Werdegang war nicht unumstritten, er wurde sogar 1988 (!) in einem Artikel der Leipziger Blätter von Helmut Richter kritisch unter die Feder genommen. Danach wurde im Zuge der geplanten Trassierung einer Fernwärmeleitung seitens des „Hauptauftragnehmers Wohnungs- u. Gesellschaftsbau“ der Stadt Leipzig der Abbruch des Hauses beantragt, obwohl erst kurz zuvor der damalige Eigentümer VEB Gebäudewirtschaft Leipzig das Dach neu eindecken lassen hatte. Vom Institut für Denkmalspflege wurde der Antrag abgelehnt.
Entgegen den Einsprüchen staatlicher Organe und Institutionen sowie einiger Anwohner forderte daraufhin der „Wohnungs- u. Gesellschaftsbau“ der Stadt Leipzig die Freimachung des Gebäudes für eine Baustelleneinrichtung. Diese erfolgte bis zum 15.12.1980, damit stand auch das Café Petit leer und war ungesichert. Plünderer „entnahmen“ dem Objekt Brauchbares – es entstand eine Ruine. Eine vom „Wohnungs- u. Gesellschaftsbau“ der Stadt Leipzig erbittert angestrebte Nutzung als Baustelleneinrichtung war somit nicht mehr möglich.
Auf Eingaben und Anfragen der Anwohner kam am 20.03.1985 ein Pressetermin zustande, der Rat des Stadtbezirkes und Bauzuständige der Stadt Leipzig teilten dabei mit, dass das Gebäude rekonstruiert und einer Nutzung zugeführt werde. Trotzdem schritt der Verfall weiter voran, im Oktober 1987 brachen die wertvollen Biedermeier-Balkongitter herunter und wurden von „Sammlern“ entsorgt. Ende November 1987 wurde erneut ein Antrag auf Abriss gestellt.
Nachdem Teile der rechten Giebelwand Kontakt mit dem angrenzenden Flachbau des Fahrradgeschäfts Preisser aufgenommen hatten, wurde das Biedermeier-Haus um 1988 abgebrochen. Heute ist der ehemalige Standort ein Teil der Fahrbahn der Ludwig-Erhard-Straße. Mit etwas mehr Fingerspitzengefühl seitens der damals Verantwortlichen hätte das Haus die Wende 1989 unbeschadet überstehen können, ob die Verkehrsplaner der 1990er Jahren daran noch ihre Freude gehabt hätten, darf stark bezweifelt werden.
Quellen:
SLUB: Online-Adressbücher der Stadt Leipzig 1846-1943
Leipziger Blätter 1988: „Der Eid des Vogtes – Anmerkungen zur Erbepflege“ von Helmut Richter
Leipziger Volkszeitung 16. September 2008: „Auf Spurensuche nach Edvard Grieg“ von Hella Brock