Zwischen Feldern und Gewerbe kreuzen sich zwei Alleen, der nach Louise Otto-Peters benannte, von Möckern (Slevogstraße) kommende Autobahnzubringer für die Auffahrt Leipzig-Nord sowie die an Gustav Adolf erinnernde Verbindung Lindenthals zur Delitzscher Landstraße. Auf der anderen Seite der Kreuzung trägt diese kleinere Allee bzw. Straße den dörflichen Namen An der Hufschmiede.
Wir befinden uns nahe der Rothkegelschen Baustoffversorgung und des Tierheims Leipzig. Hier, unweit des vielbesuchten Restaurants Bella Casa, träumt ein weiteres schönes Haus vor sich hin, ein ehemals schönes Haus. Die repräsentative Villa erinnert an die in der Leutzscher Hans-Driesch-Straße 17*, auch vom baulichen Zustand her.
Hält man die Straßen außerhalb des Blickfelds und sich die Ohren zu (der Straßenlärm wird in dieser Gegend noch zuverlässig vom Fluglärm unterstützt), ist das ein hübscher Fleck – mit Wiesen, Bäumen und dem Blick über flaches Land nach Leipzig.
Dieser Fleck gehört zu Lindenthal, und eine Menge Garagen sowie zwei Nebengebäude, die anscheinend mal handwerklich bzw. landwirtschaftlich genutzt wurden, gehören wahrscheinlich zur Villa. Was war das einst für ein Anwesen? Weiß das jemand? Und gibt es noch Bilder von früher?
* siehe auch unseren Beitrag „Das Konsulat von Panama“ (Dezember 2016)
Nachtrag 1: Die ersten Informationen sind eingetroffen. Eine Freundin, die in der Nähe der Villa zu Hause ist, schrieb: „Da hat mal eine kinderreiche Familie gewohnt. Die Eltern sind in den Urlaub gefahren und haben die Kinder dort eingesperrt. Das ist vielleicht 30 Jahre her. Meines Wissens nach kamen die Kinder dann ins Heim. Später, irgendwann zur Weihnachtszeit, wurde das Haus abgefackelt. Die Ruine ist übrigens immer wieder zum Versteck von Geocaches geworden.“ Danke!
Ergänzend folgte dieses Zitat: „Alle, die es nicht gruselig genug haben können, auf der Suche nach Dosen (= Geocaches), sollten jetzt genau lesen. Hier befindet sich das Geisterhaus schlechthin. Keinem anderen Gebäude in Mitteldeutschland werden mehr mysteriöse Geschichten und Begebenheiten zugeordnet. Stimmen aus dem Nichts, klappernde Türen oder düstere Erscheinungen sind nur die harmlosesten Dinge, die Dir hier begegnen werden …“ Da wird man ja immer neugieriger!
Und dann gab Thomas Mann die Ergebnisse seiner Recherchen auf unserer Facebook-Seite bekannt: „Das war wirklich ein schwieriges Rätsel und eine schwere Geburt, weil das Objekt in Lindenthal steht und somit im Straßenverzeichnis der alten Leipziger Adressbücher nichts zu finden ist. Ich habe es über Umwege aber trotzdem geschafft.
Da Lindenthal erst 1999 eingemeindet wurde, musste ich zuerst den alten Straßennamen für die Gustav-Adolf-Allee finden. Sie hieß früher Breitenfelder Straße (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Straße in Gohlis). Als nächstes habe ich etwas über das tragische Ende des Gebäudes gefunden. Es war eine einstmals repräsentative Villa aus dem Jahre 1900, die durch Brandstiftung am 17. Mai 2016 stark beschädigt wurde.
Mit diesen Informationen bin ich wieder in die historischen Adressbücher gegangen und fand einen Eintrag aus dem Jahr 1908 von der Firmenbesitzerin Hedwig Andrich in der Breitenfelder Straße 3 in Lindenthal. Da in dieser Straße nur zwei villenartige Häuser stehen, war die Chance groß, dass es sich bei der Adresse um unsere gesuchte Villa handelt. Nun hatte ich auch einen Namen und damit fand ich einen weiteren Eintrag der Frau Andrich und der dazugehörigen Firma.
Es war die Pyrotechnische Fabrik Julius Kratze Nachfolger in der Breitenfelder Straße 3-9 in Lindenthal. Inhaberin ist die Witwe Hedwig Andrich. Mit dem Firmennamen konnte ich nun in einem Feuerwerk-Forum den endgültigen Beweis finden, eine Rechnung mit Briefkopf der Firma Julius Kratze. Wie man auf der Zeichnung sieht, gehörte wahrscheinlich das ganze dreieckige Gelände zur Firma und auch diese kleinen Baracken, in denen sicherlich die Feuerwerkskörper hergestellt wurden.
Unsere gesuchte Villa ist im Vordergrund gut an dem runden Türmchen zu erkennen. Links davon ist die größere Villa, die heute noch steht, nur das dritte Gebäude im Hintergrund scheint nicht mehr zu existieren. Während des Ersten Weltkrieges verliert sich dann die Spur in den Adressbüchern. Ob es einen Zusammenhang mit der gleich gegenüberstehenden Firma Rothkegel und den dort öfters stattfindenden Feuerwerken gibt, weiß ich nicht.“
Sensationell! Wir sind verblüfft und begeistert. Danke, Thomas! Den illustrierten Briefkopf zeigen wir hier aus Sicherheitsgründen nicht (Urheberrecht usw.), Ihr seht ihn auf Facebook. Dort findet Ihr auch eine interessante Postkarte (Danke, Daniel!), auf der u.a. die Villa Andrich abgebildet ist, also das Nachbarhaus des von uns gesuchten Gebäudes, eins weiter in Richtung Kreisverkehr, sowie Böhmes Restaurant (heute Löschdepot) und der Gasthof Lindenthal (heute Autohandelsfläche ggü. vom Bella Casa).
Nachtrag 2: Unser Mitstreiter Holger (ehem. Anger-Crottendorf) hat das von Thomas entdeckte Kratze-Dokument „übersetzen“ lassen. 1904 in Rechnung gestellt wurden u.a. Frösche, Kalospinthe, Cracker, Fackeln, Bengalen, Sternregenhölzer sowie Goldregenröhrchen. Danke, Holger!
Nachtrag 3: Im August 2022 rief uns ein netter Leser an und erzählte, dass in dem hier abgebildeten Nebengebäude einst der Rennfahrer Thaßler aktiv gewesen ist. Er hätte dort Fahrzeugteile hergestellt. Wir klickten sofort in Sportfreund Jens‘ Beitrag „Leipziger Rennfahrerlegende“ (Oktober 2019) und lasen auf unserer eigenen Seite: „In seiner Drei-Mann-Firma in Wiederitzsch fertigte Hartmut Thaßler vor der Wende insbesondere Teile aus glasfaserverstärktem Polyester, dazu zählten zum Beispiel Bootskörper, unter anderem für die Seerettung, Gondeln für Karussells, Surfbretter und Verkleidungen für die Motorräder MZ 250.“ Könnte passen! Danke!!!