Als Enno Seifried und Freunde vor gut zweieinhalb Jahren den ersten Teil ihrer Dokumentarfilmreihe „Geschichten hinter vergessenen Mauern – Lost Place Storys aus Leipzig“* vorstellten, standen noch Gebäude, die es heute nicht mehr gibt. Andere waren damals Lost Places und sind heute Lofts bzw. werden gerade umgebaut. In Leipzig ist was los!
Doch je mehr Lost Places verschwinden, desto mehr trauert man ihnen nach. Noch vor 25 Jahren sah der größte Teil unserer Stadt wie ein Lost Place aus. Dafür aber war zu der Zeit alles mit Menschen gefüllt, Wohnungen in Abrisshäusern ebenso wie Fabriken, denen kurz darauf von Treuhand, Politik und Medien das preissenkende Adjektiv marode angehängt wurde.
Jahrelang interessierte sich keiner für diese Buden, abgesehen von der nach und nach wachsenden Menge der Partymacher, Geocacher und Lost-Place-Fotografen. Auf einmal erschienen Bücher, dann Filme und schließlich – wie schon damals kurz nach der Wende – Investoren. Diesmal jedoch wurde nicht für eine DM erworben und dann geschlossen. Diesmal wurde und wird saniert.
Und wir laufen mit offenen Mündern durch die Straßen und fragen uns: Wo kommen die 10.000 Neu-Leipziger pro Jahr nur her und wo arbeiten sie hier? S-Bahnhöfe, Postämter und Polizeireviere zum Beispiel kommen ja kaum in Frage. Dresdner Bank? Quelle? Hotel Astoria? Das Hotelgewerbe ist gar nicht falsch, außerdem wahrscheinlich Gastronomie, Unister, BMW, Stadtverwaltung und Arbeitsamt.
Zurück zu den Lost Places: Marc Mielzarjewicz fotografierte als einer der Ersten „Verborgene Welten“** in Leipzig und veröffentlichte sie im Mitteldeutschen Verlag in Halle. Manche der von ihm vorgestellten Örtlichkeiten sind so wie im Buch gar nicht mehr existent, andere haben neues Leben in sich. Einige allerdings sehen noch so richtig schön marode aus, z.B. die ehemalige Seifenfabrik Ozean (was für ein Name!) am Ende der Pittlerstraße, die Maschinenfabrik Swiderski in der Zschocherschen oder die Globus-Werke in der Limburgerstraße.
Dietzolds Fabrik mit ihrem markanten Giebel Richtung Franz-Flemming-Straße gehört jetzt zu den Wächterhäusern, Elguwa in der Burgauenstraße wurde gesprengt (mitzuerleben in „Geschichten hinter vergessenen Mauern – Lost Place Storys aus Leipzig“, Teil 1), während Interdruck in der Dresdner Straße inzwischen wieder richtig schick aussieht. Es ist interessant, die aktuelle Situation mit Mielzarjewiczs konsequent in Schwarzweiß gehaltenen Fotos zu vergleichen.
Farbfotos hingegen enthält die Leipzig-Ausgabe von „Geisterstätten – Vergessene Orte“*** aus dem Jaron Verlag Berlin. Uwe Schimunek und Arno Specht waren dafür in Begleitung von Babett Köhler und Adrian Specht in der Stadt unterwegs und besuchten zum Teil die selben Gebäude wie ihr gerade erwähnter Kollege: Die Sternburg-Brauerei in Lützschena, die Bleichert-Werke in Gohlis oder den Postbahnhof in Schönefeld.
Schimunek und Specht gehen die Sache feuilletonistischer an, sie schreiben mehr und erzählen – wenn es sich anbietet – kleine Geschichten: Vom Aushandeln des Milliardenkredits für die DDR im Gästehaus des Ministerrats, von Chemie Leipzigs letzter Meisterschaft im Kapitel über den Bahnhof Leutzsch oder von der letztendlich unguten Entwicklung der Familie Mansfeld (Mansfeld-Werke, VEB Leuchtenbau) in Paunsdorf.
Beide Bücher sowie die auf DVD erhältliche Filmreihe legen wir Leipzigern und Leipzig-Interessierten ans Herz. Unsere Stadt verändert sich im Augenblick rasant. Statt wie in den 1990ern gläserne „Keksrollen“ entstehen derzeit Hotels und höherpreisige Wohnungen. Alte Bezugspunkte verschwinden (Robotron-Komplex zwischen Nord- und Gerberstraße) oder wandeln Zweck und Gestalt (Brauerei Bauer, LKG, Lindenauer Hafen). Letzteres – die Wandlung – ist auf jeden Fall besser als Leerstand und Abriss.
Der Felsenkeller wird wieder genutzt, das Bugra-Messehaus nicht weiter vermodern und sogar der lange Zeit vergessene Bahnhof Wahren seit kurzem umgebaut. Die Krause-Villa in der Zweinaundorfer ist saniert, die Merseburger Straße wieder belebt und eines Tages kommt auch das Astoria an die Reihe! Geht spazieren und guckt herum, macht Fotos und hebt sie fünf Jahre lang auf, dann holt Ihr sie raus und staunt.
* www.lostplace-dokfilm.de
** www.mitteldeutscherverlag.de
*** www.jaron-verlag.de
Nachtrag am 26.11.2014: Das ehemalige Thalysia-Werk in der Kochstraße 124 (oder 122?) wird zu Wohnungen umgebaut, meldet die Leipziger Volkszeitung heute. In dem zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichteten Gebäude hätten einst bis zu 1.800 Beschäftigte „Reformhaus-Artikel wie Schuhe und Miederwaren“ hergestellt. Unserer Meinung nach ist die Fabrik in Teil 1 der Lost Place Stories zu sehen. Siehe dazu auch unseren Beitrag „Reformen mit Paul, Teil 4“ vom Januar 2020.
Nachtrag am 07.01.2016: Heute informierte das Dezernat Stadtentwicklung und Bau zum Thema Gästehaus am Park: „Bereits im Juli 2013 wurde im Zuge der Anfrage damaliger Kaufinteressenten, ob hier ein Denkmal vorliegt, die Denkmaleigenschaft für die seit 20 Jahren geschlossene Herberge vom Landesamt für Denkmalpflege festgestellt. Die Denkmaleigenschaft wird von zuständigen Fachleuten entsprechend der Kriterien des Sächsischen Denkmalschutzgesetzes ermittelt. Sie ergibt sich allein aus den dabei ermittelten Sachverhalten.“ Fazit: Das Haus ist ein Denkmal.
Nachtrag am 14.09.2020: „Gästehaus am Park: Sanierung hat begonnen“, lautet heute eine große Überschrift im Lokalteil der LVZ. Eine Tochterfirma der Leipziger Lewo AG saniere denkmalgerecht. Entstehen sollen Wohnungen, sechs davon in den Originalgrundrissen. Zu den beiden existierenden Hoch- und Flachbauten werde sich ein Siebengeschosser gesellen – an der Ecke von Karl-Tauchnitz- und Haydnstraße. Fertig sei alles in zwei Jahren.