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Im Bahnhofsrestaurant

Bf. Liebertwolkwitz

Ursprünglich wollten wir den Kreis der Frühstücksgäste in der Konditorei Liebethal um zwei Personen erweitern. Doch als wir das Zentrum von Liebertwolkwitz erreicht hatten, mussten wir feststellen, dass wir um Jahre zu spät gekommen waren, das Haus mit dem Baumkuchen an der Wand hatte nicht erst gestern geschlossen. Also planten wir um und fuhren zum Bahnhof.

Aus dem Internet wussten wir, dass dort eine der inzwischen selten gewordenen Bahnhofsgaststätten den Betrieb aufrecht erhielt. Und so war es! Keine Überraschung à la Liebethal. Zu unserer Freude fanden wir die einst typischen Holzüberdachungen an den Gleisen vor (wie bis vor wenigen Jahren u.a. auch in Leutzsch und Stötteritz) sowie Holzpflaster auf dem Boden. Sehr nostalgisch.

Und 11.30 Uhr öffnete das Restaurant der Familie Pestel, flexibel änderten wir unsere Frühstückswünsche in einen Mittagsappetit. Auf der Karte standen u.a. Rühreier mit Pfifferlingen sowie z.B. Soljanka, Toast Hawaii oder Strammer Max. Als Spezialität des Hauses gilt der Schrankenwärtertopf mit kleinen Steaks von Geflügel und Schwein, Bratkartoffeln, Buttergemüse, Champignons und Salatteller.

Das am 1. September 1990 „nach 30 Jahren Dornröschenschlaf“ wiedereröffnete Lokal verfügt über eine kleine Gaststube und einen zusätzlichen Saal. Kaum hatten wir Platz genommen, trafen die Stammgäste ein, einer nach dem anderen, durchweg Männer, alle freundlich – hier grüßt man und klopft auf den Tisch. In den Neunzigern wurde in den Betrieben rundum noch produziert, erzählt Wirt Thomas Pestel, gab es eine Berufsschule in der Nähe, zwei Ziegeleien, ein Sägewerk, Fabriken für Traktor- und Multicar-Getriebe sowie landwirtschaftliche Betriebe mitsamt einer BHG (Bäuerliche Handelsgenossenschaft). „Da war bei uns richtig was los!“

Heutzutage hat sein Restaurant von 11.30 bis 15 Uhr geöffnet, am Wochenende eine halbe Stunde eher und freitags gar nicht. Gut, dass wir es zufällig um die Mittagszeit versucht hatten. An der Wand entdecken wir Eisenbahnerbilder, ein Foto der Wirtsleute aus der Zeit der Wiedereröffnung sowie ein Porträt des sächsischen Königs Friedrich August III., der, wenn wir es richtig verstanden haben, Liebertwolkwitz zu Beginn des 20. Jahrhunderts anlässlich einer Übung seiner Truppen besucht hat.

Wenn Ihr es ihm (dem König) oder uns gleich tun wollt, lasst nicht unnötig Zeit zwischen Wunsch und Wirklichkeit verstreichen! Denn auch wenn wir hoffen, dass sie noch ewig weiter kochen und servieren, es kommt der Tag, an dem Martina und Thomas Pestel in den Ruhestand gehen werden.

Zuguterletzt empfehlen wir Billard, Burger und Bahnhofsatmosphäre sowie die (Mittwochs-)Schnitzel samt freundlicher Bedienung im Bi-Ba-Bo, zu finden im Bahnhof Plagwitz am Ende der Karl-Heine-Straße, und wollen auch den Bayrischen Bahnhof nicht unterschlagen, ein gemütliches Riesenrestaurant mit U- bzw. S-Bahn-Haltestelle.

www.bahnhofsrestaurant-lwitz.de

siehe auch unseren Beitrag „Holzpflaster im Zentrum“ (September 2012) sowie die Reihe „Verlassene Bahnhöfe (I bis X)“

Nachtrag am 13.12.2016: Wir waren noch einmal vor Ort, aßen Gänsekeule bzw. Schrankenwärtertopf (wunderbar!) und machten ein paar Innenaufnahmen. Außerdem knipsten wir die ehemalige Konditorei Liebethal, ggü. vom Schwarzen Ross gelegen.

Nachtrag am 22.12.2017: Die Bahnhofsgaststätte in Liebertwolkwitz ist Geschichte. „Der gestrige Donnerstag war der letzte reguläre Öffnungstag, seit die Eheleute (Martina und Thomas Pestel) die damals stillgelegte, fast vergessene Kneipe im April 1990 von der Reichsbahn anmieteten“, erfahren wir heute aus der LVZ. „Mit Andreas Klasen, seit 2013 privater Eigentümer von Empfangs-, Nebengebäuden und Bahnhofsvorplatz, kamen die Pestels nicht klar.“ Der „gebürtige Rheinländer mit Wohnsitz im Südschwarzwald“ kündigte den Gastronomen erst einen Lagerraum, dann den Freisitz und schließlich die Pacht an sich – eine traurige Parallele zu Angela und Matthias Frank, die von 1975 an die Gaststätte im Bahnhof Taucha betrieben hatten und 2013 ähnlich unfreiwillig wie die Pestels aufhörten (siehe unseren Beitrag „Bahnhöfe zu verkaufen“ vom August 2012).