1973 war ich (B.) ein kleiner Wanst, ein Kindergartenkind, das in der Gerberstraße wohnte und jeden Tag zum Wintergartenhochhaus in den Kindergarten ging. Die Einrichtung befand sich oberhalb des Restaurants „Stadt Dresden“. An Muttis Hand lief ich entweder durch den Hauptbahnhof oder vor diesem entlang von West nach Ost. Beim Abholen gab es ab und zu ein Eis im Feinkostladen am Georgiring. Das Geschäft verfügte an der ringabgewandten Seite über einen Barbereich. Manchmal gab es das Eis auch in der Kreuzstraße oder in der Petersstraße, ungefähr dort, wo heute Hugendubel steht, und dort wollte ich am liebsten einen Erdbeermilchshake. Mit der Kindergartengruppe waren wir außerdem manchmal in der Mokka-Milch-Bar gleich unten im Wintergartenhochhaus, wo wir Kugeleis durch wildes Löffelschlagen in Softeis verwandelten.
Doch es gab nicht nur Eis in der Kindheit. Einen Beutel Milch und ein halbes Mischbrot holten wir fast täglich im kleinen Lebensmittelladen in der Rudolf-Breitscheid-Straße (heute Kurt-Schumacher-Straße; ein altes Schild überdauert an der Gaststätte „Optiker“), nebenan befand sich ein Café mit Konditorei (später Vis-a-vis) und unweit davon ein Schuster, der uns einen Fußball wegnahm, weil wir uns seines Erachtens nach auf dem Spielplatz zwischen Gerber- und Rudolf-Breitscheid-Straße zu laut und zu wild aufführten. Vielleicht hatte er aber auch einfach keine Lust auf ein weiteres eingeschossenes Hoffenster. Ohne Ball gingen wir klettern; die Lückenwand zwischen Wäschetrocken- und Parkplatz eignete sich dafür besser als das Klettergerüst.
Das Haus in der Gerberstraße war und ist riesig, gut 300 Wohnungen befinden sich darin. Wir wohnten in der dritten Etage, Jörg in der fünften und Mario in der achten. In die dritte konnte man laufen, denn im Fahrstuhl steckenzubleiben war nicht schön. Das passierte und es konnte dauern, bis der Hausmeister das Problem gelöst hatte. Es gab sogar zwei Hausmeister, denn das Haus ist ein Doppelhaus, Gerberstraße 18 und 20. Aus Jörgs Wohnung schaute man zur Gerberstraße, aus unserer zum Bahnhof, aus Marios auch, bloß von viel weiter oben – da konnte einem schon schwindlig werden. Tilo hingegen wohnte anders und interessanter – in einer Dreiraumwohnung. Von denen gab es meiner Erinnerung nach nur sehr wenige auf der Etage, alle anderen hatten zwei Zimmer sowie Küche, Bad und Abstellraum. Von Jörgs Fenster aus beobachteten wir irgendwann nach 1973, als das Baufeld fürs Hotel Merkur freigemacht wurde, das Wirken einer Abrisskugel.
Wenn wir zu Oma und Opa fuhren, dann mit der Straßenbahn, entweder in die Crottendorfer oder in die Holsteinstraße, je nachdem welche Großeltern wir besuchten. Die Tanten und Onkel wohnten in der Geißler-, der Eduard- und der Philipp-Rosenthal-Straße, am Wochenende ging es in die für ein Gerberstraßenkind nahegelegene Innenstadt, an den Elsterstausee oder in den Clara-Zetkin-Park, dessen Blumengarten mit der Sonnenuhr sich für mich nie verändert hat. Ein Besuch dort versetzt mich zurück in die Kindheit. Ebenso fühlt es sich an in Kleingartenvereinen, im Rosental und dem Stünzer Park. Die Eisenbahnunterführung an der Feuerwache Ost ist noch so ein Relikt.
Eingeprägt hat sich mir weiterhin die Schwanengruppe vorm Restaurant Falstaff, sie war der Ausgangspunkt unserer Kindergartenspaziergänge, die uns zur Hauptpost, manchmal rund um die Oper und über das Gelände am Schwanenteich zurück in die Wintergartenstraße führten. Der Eingangsbereich vom Zoo mit Löwentor, Kassenhaus und dem Turm der Kongresshalle hält sich ebenso im Gedächtnis wie der Geruch von Affen- und Raubtierhaus, die Jasonskulptur oder die riesigen Volieren auf dem Weg zum Elefantenhaus. Ein einziges Trauma aus diesen Tagen ist geblieben, eine Weihnachtsfeier mit dem Puppenspiel von Zwerg Nase – schrecklich. Als kleines Kind identifizierte ich mich mit dem Helden, fühlte mich ausgeliefert und träumte noch Jahre von bösen Hexen, die komischerweise den Fahrstuhl in der Gerberstraße manipulierten oder in der Nikolaistraße herumkrakeelten.
Wie ich auf all das komme? Ich habe ein paar alte Fotos gefunden.