„Die Einverleibung der Vororte“ ist ein Abschnitt in Julius Heilands Buch „Leipzig als Groß-Stadt“ (Verlag Dr. Reinhold & Co., 1921) überschrieben. Innerhalb weniger Jahre wurden damals 25 Vororte Teil der Stadt (das wiederholte sich in etwa Ende der 1990er Jahre). Heiland datiert die „Geburtsstunde Groß-Leipzigs“ auf die Jahreswende 1888/89 und führt aus: „Am 31. Dezember 1888 begab sich der Oberbürgermeister (Georgi) mit einigen Mitgliedern des Rates und des Polizeiamtes nach den Gemeindeämtern Reudnitz und Anger-Crottendorf, wo die Auflösung der Gemeinderäte und die Aufnahme der beiden Gemeinden in das Stadtgebiet erfolgte.“
Nach Reudnitz und Anger-Crottendorf (1889) wurden Neureudnitz, Thonberg, Neuschönefeld, Neustadt, Volkmarsdorf, Sellerhausen, Gohlis und Eutritzsch (1890) eingemeindet, anschließend Kleinzschocher, Schleußig, Plagwitz, Lindenau, Connewitz und Lößnig (1891) sowie Neusellerhausen (1892). Die Einwohnerzahl des wachsenden Leipzigs entwickelte sich dementsprechend, betrug sie 1864 noch 85.000, so waren es 1885 schon 170.000, 1890 dann 357.000 und 1910 schließlich 614.000. Zum Vergleich: 1885 hatte Reudnitz 18.800, Lindenau 15.300, Gohlis 13.000 und Volkmarsdorf 12.700 Einwohner.
Wie Heiland berichtet, lehnten die Stadtverordneten um 1890 die Aufnahme der Vororte Schönefeld, Stötteritz, Möckern und Leutzsch vorläufig ab. Es habe Widerstand innerhalb des Rates der Stadt gegeben, angeführt von Dr. Wangemann, sowie seitens der Amtshauptmanschaft, deren Chef von Nostitz-Wallwitz d.Ä. „ein entschiedener Gegner des Einflusses und damit auch des Wachstums der Großstädte“ gewesen sei. Doch der neue Oberbürgermeister Dittrich ließ nicht locker und setzte 1910 die Eingemeindung von Möckern, Stötteritz, Stünz, Probstheia, Dölitz und Dösen durch. Schönefeld und Mockau kamen 1915 hinzu. Bei Leutzsch gab es Querelen, da dauerte es länger.
Bürgermeister waren zur betrachteten Zeit Otto Georgi (ab 1876), gefolgt von Bruno Tröndlin (ab 1899) und Rudolf Dittrich (ab 1908) – alle namentlich am Ring um die Innenstadt verewigt. Nahe des Neuen Rathauses findet sich außerdem die Otto-Schill-Straße. Wer war deren Namensgeber? Heiland klärt auf: „Das Stadtverordnetenkollegium bestand damals aus 60 Mitgliedern. Wie der Rat von Georgi, so wurde es ebenfalls von einem überlegenen Geiste beherrscht: seinem Vorsteher Justizrat Dr. Otto Schill. Geboren am 9. Dezember 1838 in Schneeberg, ließ er sich nach beendeten Studien in Leipzig nieder, trat im März 1875 in das Stadtverordnetenkollegium, wurde im November 1876 dessen Vizevorsteher und am 2. Januar 1882 zum Vorsteher gewählt, der er geblieben ist bis Ende 1899. Selten hat es zwei Männer gegeben, die in ihren ganzen Anschauungen so harmonierten wie Schill und Georgi. In der politischen Richtung gehörten beide dem rechten Flügel der nationalliberalen Partei an …“
Doch die von Georgi und Schill gemeinschaftlich vorangetriebene Stadterweiterung hatte einen unerwünschten Nebeneffekt: „Die Aufnahme der Vororte vermehrte auf einmal die Arbeiterbevölkerung in außerordentlichem Maße und die sozialdemokratische Partei entwickelte eine sehr rührige Agitation, um die Arbeiter zur Erwerbung des Bürgerrechts – denn dieses war die Vorbedingung für die Wahlberechtigung – zu veranlassen. Es winkte der Partei nicht nur ein Erfolg, sondern dieser mußte ihr aller Berechnung nach in wenigen Jahren zufallen. …
Die Sozialdemokraten beteiligten sich 1890 zum ersten Male bei den Stadtverordnetenwahlen und erzielten etwas über 2000 Stimmen. Im nächsten Jahre waren es schon 4300, 1892 steig die Zahl auf 4900 und 1893 auf nahezu 6000. Nun hielt es der Rat für die höchste Zeit, durch eine Aenderung des Stadtverordnetenwahlrechts einem etwaigen Masseneinzug von Sozialdemokraten in die Stadtvertretung vorzubeugen. Unter dem 22. September 1894 legte ‚die verstärkte Verfassungs- und Wahldeputation des Rates‘ den Stadtverordneten einen Nachtrag zum Ortsstatute vor, der die Einführung des Dreiklassenwahlrechts für die Stadtverordnetenwahlen vorsah. Die Ausarbeitung dieses Nachtrags war durch Georgi erfolgt …“
Das Dreiklassenwahlrecht teilte die Wähler nach ihrer Steuerleistung ein, stufte die vergleichsweise armen Wähler der Sozialdemokraten also in ihrer politischen Wirksamkeit herab, dennoch eroberte ihre Partei 1895 die ersten vier Sitze im Stadtverordnetenkollegium. Und Heiland stellt fest: „Der November-Umsturz 1918 räumte mit allen Klassenwahlrechten auf.“ Leutzsch übrigens wurde laut Wikipedia „mit mehr als 15.000 Einwohnern … (erst) 1922 nach Leipzig eingemeindet“.
Danke an Julius Heiland (selig) fürs Schreiben vor über hundert Jahren sowie an Siggi und Mathias für das Wiederentdecken dieses Buches!
Ergänzung: Im Kapitel „Leipzig nach dem Weltkriege“ dieser 123 Jahre alten Publikation fühlen wir uns in die Gegenwart versetzt: „Zu dem Übel der Arbeitslosigkeit kam noch eine sich sehr stark fühlbar machende Wohnungsnot hinzu. Ihr Eintreten war vorausgesagt und bestritten worden. Vom Standpunkte der Statistik aus war sie eigentlich nicht gut denkbar, da infolge des mangelnden Zuzuges und der Kriegsverluste mit einer Verminderung der Bevölkerungszahl gerechnet werden mußte. Eine Zählung am 1. November 1916 hatte auch über 7000 leerstehende Wohnungen ergeben. Und plötzlich, Mitte 1919, war die Wohnungsnot da, und zwar in einem früher nicht für möglich gehaltenen Maße. Dabei hatte die Zählung vom 30. Mai 1918 gezeigt, daß 161 800 Wohnungen vorhanden waren, das sind 18 000 mehr als 1910, und daß immer noch 5200 Wohnungen leer standen.
Das merkwürdigste aber war, daß, wie schon an anderer Stelle mitgeteilt, die Bevölkerungsziffer von 614 000 im Jahre 1910 auf 604 000 im Jahre 1919 gesunken war. Die Erklärung für den Wohnungsmangel läßt sich nur darin finden, daß sich die Zahl der Haushaltungen in diesem neunjährigen Zeitabschnitt beträchtlich vermehrt haben muß … Noch mehr fällt aber ins Gewicht die große Zahl der Eheschließungen, über 11 800 in dem anderthalbjährigen Zeitraum vom 1. Januar 1919 bis zum 30. Juni 1920. Demgegenüber stellt sich der reine Zuwachs an neuen Wohnungen nur auf 480! So kann es denn nicht wundern, daß 7000 Familien ohne eigene Wohnung sind. Das schlimmste ist, daß es kein Mittel zur Abhilfe gibt. Der natürlichste Weg wäre der Bau von Wohnhäusern. Aber nicht nur der Mangel an Rohstoffen, sondern vor allem die hohen Kosten der Baumaterialien und die ins Ungemessene gestiegenen Löhne machen sein Beschreiten fast zur Unmöglichkeit.“ Was Heiland 1921 nicht wissen konnte – in den 1920er Jahren wurden in Leipzig noch sehr viele neue Wohnhäuser gebaut.