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Die „Böse Tat“ in Schönefeld

Böse Tat in Schönefeld

Wie wir zur „Bösen Tat“ in Schönefeld kamen? Ganz einfach, wir fuhren zunächst in die Stadt, um im Zeitgeschichtlichen Forum Mahmoud Dabdoubs Fotoausstellung „Die Straße ist mein Atelier“ anzusehen, die gut ist, aber unserer Meinung nach umfangreicher hätte ausfallen können. Danach suchten wir Bachmanns Buchhandlung, also den Leipzig-Laden, unter den Arkaden des Alten Rathauses auf. Dort blätterten wir in Dabdoubs sehenswertem Buch „Alltag in der DDR“ und ebenso, weil er uns ins Auge fiel, durch den Band „Im Partheland (zwischen Leipzig, Taucha und Borsdorf)“, was dazu führte, dass wir tags darauf zur Parthe fuhren und zwar nach Thekla.

Bei HopfenMichel* und Mühlengrund, zwei Freisitzen, die wir vor gar nicht all zu langer Zeit (2023) mal besucht hatten, wollten wir dem Lauf des Flüsschens folgen – doch die Brücke war gesperrt. Zwangsläufig disponierten wir um, steuerten den Abtnaundorfer Park** an und spazierten dort am Wasser der Parthe entlang, anschließend auch noch ein wenig durch Abtnaundorf selbst. Dabei erinnerte uns das erste große Gebäude im Pferdehof des Reit- und Fahrvereins Herodot an eine architektonisch gelungene mecklenburgische Bahnstation. Auch das mächtige alte Fachwerkhaus, der ehemalige Gasthof, ganz in der Nähe traf wie schon vor Jahren unseren romantischen Nerv.

Dann, auf dem Rückweg über Schönefeld, aber wurde es gruslig. Von der Theklaer Straße aus sahen wir Reliefs an einem Gebäude in der Gorkistraße, zwei, drei Häuser rechts von dem halben Trabant***, der über einer Einfahrt hängt. Wir hielten an, zoomten ran und glaubten unseren Augen nicht, denn das waren bedrückende Bilder: Schuld – Verdacht – Böse Tat – Strafe. Und in der Etage darüber fuchtelt ein Erwachsener vor einer Kinderschar mit dem Messer bzw. lockt der Rattenfänger mit seinen Flötentönen die Kleinen davon.

Zu welchem Zweck hatte man das Haus denn 1911 errichtet? Als Wohnhaus eines besonders strengen Richters, als Heim für straffällig gewordene Minderjährige, als Sühne für ein schlimmes Verbrechen? Die Reliefs strahlen jedenfalls nichts Gutes oder Hoffnungsvolles aus – im Gegenteil.

* siehe unseren Beitrag „Es waren einst sieben Brauereien“ (November 2021)
** siehe unsere Beiträge „Das Millionendorf“ (Januar 2013) und „Schön versteckt: Abtnaundorf“ (Oktober 2017)
*** siehe unseren Beitrag „Entdeckungen in Schönefeld II“ (November 2012)

Nachtrag 1: Peter aus Meusdorf hat sich interessante Gedanken gemacht: „Die ‚Böse Tat‘ hat mich nicht losgelassen, seit ich den Artikel zum ersten Mal gelesen habe – vielleicht weil mich die im Artikel geäusserten Vermutungen über das Motiv für die ‚Böse Tat‘ an der Fassade nicht wirklich überzeugt haben: das Haus selbst wirkt nicht wie ein ‚Zuchthaus‘ und ein Jurist würde sein Haus niemals so ausgestalten, ich bin selbst Jurist und kenne meine Pappenheimer. Die Justiz ist eine ’stille Gewalt‘ (Rüdiger Lautmann). Auch ein moralinübersäuerter Bußprediger christlicher Provenienz würde kaum passen: da hätte noch was von Jesus und Erlösung mit bei sein müssen … Ich habe hin und her überlegt und bin ratlos geblieben. Und heute bin ich dann mal auf die Idee gekommen, mir die Gegend auf Google-Maps mal ein bisschen näher anzuschauen. Das Haus der ‚Bösen Tat‘ – Gorkistr. 6 – habe ich auch dort gefunden. Es liegt ganz oben, am nördlichen Ende der Gorkistraße und da sind mir 2 Aspekte auf- bzw. eingefallen:

1) Das Errichtungs-Jahr 1911 habe ich auf dem Google-Foto in dem angedeuteten Erker entdeckt – und noch ein weiteres Relief südlich (links) davon. Auch auf den Bildern im Geheimtipp ist es nur zu erahnen, hier wie dort kann ich aber nichts Konkretes erkennen. Es scheint 1 Person zu sein, die an irgendetwas ‚herumwurschtelt‘.

2) Weil ich mich als Meusdorfer Südpol-Bewohner im Nordosten von Leipzig kaum auskenne, habe ich mir die nähere und mittlere Umgebung auch mal ‚angegooglet‘ und dabei ist mir tatsächlich eine sehr ‚Böse Tat‘ in der Nachbarschaft ins Auge gesprungen, nämlich das Massaker von Abtnaundorf (siehe Wikipedia) – das hat sich nämlich gerade mal ein paar hundert Meter weiter nördlich abgespielt.

Dem Wiki-Artikel ist zu entnehmen, daß die Amerikaner, die Leipzig wenige Tage später erreicht haben, dieses Endphase-Verbrechen sehr sorgfältig untersucht, einen Film darüber auch bei den Nürnberger Prozessen gezeigt haben. Es hatte auch Wellen durch die gesamte Stadt geschlagen – aber nur 2 Verhaftungen und nur 1 – in Worten: eine einzige – Verurteilung zu einer sehr niedrigen Freiheitsstrafe sind bekannt geworden …

Die Fassade des fraglichen Hauses in der Gorkistraße ist jedenfalls nicht aus dem Baujahr, offenbar auch nach 1990 (abermals?) saniert worden. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, daß bei der wahrscheinlich ersten Sanierung der Fassade nach 1945 jene ‚Böse Tat‘ und ihre äusserst mangelhafte Aufarbeitung immer noch sehr präsent gewesen sein könnte in diesem Stadtteil und in den gruseligen Reliefs einen ‚verklausulierten‘ Ausdruck bekommen sollte. Die ‚holzschnitt-artigen‘ Darstellungen auf den Reliefs wollen für mich auch weniger zum Jahr 1911 passen, als der Jugendstil en vogue war, sondern erinnern mich vom Stil her eher an die im Osten ja ubiquitären Käthe-Kollwitz-Proletarier.

Die ‚Strafe‘ im Relief zeigt Zwangsarbeit – Zwangsarbeiter waren die Opfer und auch der einzige verurteilte Täter wird Zwangsarbeit geleistet haben, wie das damals ja üblich war im Knast. Der „Verdacht“ richtete sich damals wohl gegen so einige Leipziger Mitbürger, v.a. jene ‚Volkssturmmänner‘, die nach dem Wiki-Artikel eifrig mitmassakriert hatten und wahrscheinlich nie belangt worden waren. Diese Täter der ‚Bösen Tat‘ schlichen sich davon, wie derjenige auf diesem Relief. Mit dem ‚Rattenfänger von Hameln‘ hat man die Nazis auch stets gerne verglichen, eine ‚Nacht der langen Messer‘ (das Relief ganz oben links) hat es nicht nur 1934 gegeben … Man könnte zu der Vermutung kommen, daß jenes Massaker ‚alptraumhaft‘ in den Reliefs Ausdruck gefunden hatte, d.h. die Erinnerung wurde ‚wie durch Traumarbeit‘ verfälscht. Der Autor (oder die Autoren) dieser Reliefs könnten auch damit eine Anklage erhoben haben gegen jene (Mit-)Täter, die in der Nachbarschaft immer noch vermutet wurden und wahrscheinlich auch mit dem Sozialismus ihren Frieden gemacht hatten, womöglich wieder in ‚der Partei‘ untergeschlüpft waren … Vielleicht wohnte ein Verdächtiger gegenüber, in der Nachbarschaft, würde mutmaßlich jeden Tag mit Bus & Bimmel an dieser steinernen Anklage vorüber müssen … Es könnte vielleicht sogar einer der Täter gewesen sein, der mit dieser Anklage wenigstens seine eigenen Hände in Unschuld waschen, den Verdacht von sich ablenken wollte … ich gebe zu, meine Spekulationen werden immer gewagter und deswegen mache ich jetzt damit Schluß!“

Herzlichen Dank, Peter!

Nachtrag 2: Nachdem wir ihm das fehlende Relief gemailt hatten, meldete sich Peter ein weiteres Mal: „Auf den zweiten Blick erscheint mir das ‚Schuld-Relief‘ doch interessant: es ist das einzige Relief, das ein individuelles Gesicht zeigt, das bis in Details ausmodelliert ist. Man könnte einen solchen Menschen wiedererkennen, wenn er einem auf der Straße begegnet. In allen anderen Reliefs bleibt das Gesicht unscharf, wird bei der ‚Bösen Tat‘ sogar in den Händen verborgen. Und dann: der Mann trägt ein sehr langes Gewand, das man sich als ‚Büßerhemd‘ denken kann, aber als Jurist (wenn auch ‚a.D.‘) denke ich an die Robe, die unser Anwaltsstand bis heute zu tragen pflegt, wenn es ‚offiziell‘ wird: vor Gericht. Selbstverständlich tragen auch die Richter und Staatsanwälte Roben. Das war allerdings bei uns im Osten nicht immer so: in der DDR gab es recht bald, schon in den 1950ern, eine Justizreform, die ‚Unabsetzbaren‘ (Tucholsky), also die auf Lebenszeit ernannten Richter, verschwanden ebenso wie ihre Roben.

In meine Vermutung von dem Bezug des ‚Hauses der Bösen Tat‘ zum ‚Massaker von Abtnaundorf‘ würde die ‚Schuld‘ eines Robenträgers gut hineinpassen: wie gesagt, nur von einer einzigen Verurteilung hat man – nach Wikipedia – Kenntnis, die meisten Mörder gingen wahrscheinlich straffrei aus. Die ‚Schuld‘ könnte also in diesem Relief einem Richter oder Staatsanwalt zugewiesen werden, der die Strafverfolgung jenes Massakers seinerzeit hintertrieben haben könnte. Es könnte ein Richter sein, der Angeklagte freigesprochen hatte, aber auch ein Staatsanwalt, der ‚Beschuldigte‘ erst gar nicht angeklagt, die Ermittlungsverfahren eingestellt hatte ‚mangels Nachweises einer Straftat‘ (§ 170 II StPO).

Unmittelbar nach dem Krieg werden recht bald auch die Gerichte und Staatsanwaltschaften ihren Geschäftsbetrieb nach den ‚reichsrechtlichen‘ Gesetzen und Vorschriften wieder aufgenommen haben, es geht ja nicht anders: gemordet und vergewaltigt wird sowieso immer und in Notzeiten haben Eigentumsdelikte Hochkonjunktur. Und die Richter und Staatsanwälte, die in den späten 1940er Jahren wieder tätig geworden waren, werden auch weiter Roben getragen haben.

So könnten diese Reliefs von der ‚Bösen Tat‘ also nicht nur Anklagen gegen die Täter gewesen sein, sondern auch Anklagen gegen die Strafverfolgungsbehörden und Gerichte, welche die Täter ‚laufen lassen‘ haben: ein dunkles und sehr, sehr schwieriges Kapitel (nicht nur) unserer Geschichte.“

Noch einmal vielen Dank für Deine interessanten Gedanken, Peter!

Nachtrag 3: Die Festschrift „725 Jahre Schönefeld / 1270 – 1995“ (herausgegeben vom Bürgerverein Lebensraum Schönefeld e.V.) enthält zwei Anekdoten, die zu unserem Thema passen, aber nicht mit dem besprochenen Haus in Verbindung gebracht werden können. Nr. 1: „Peter Wind, ein“ Schönefelder „Bauer, saß in einem Weinkeller in der Leipziger Reichsstraße. Der Kohlgärtner Hertel gab ihm dort eine derart heftige Ohrfeige, daß Wind vom Schemel fiel und kurz darauf verstarb. Der Kohlgärtner wurde, da der Schlag ‚aus Spaß‘ geschah, mit Tritten aus der Stadt verwiesen, später jedoch begnadigt.“ Nr. 2: Die Lindenallee besaß … keinen guten Ruf. Am 13. Oktober 1572 fand man dort eine Frauenleiche mit Stichen in Hals und Brust. Neben der Leiche soll ein blutiges Brotmesser und Schreibzeug gelegen haben.“