Nachruf von Dr. Julius Zeitler im Leipziger Kalender für 1908: „Unter den bekannten Anläufen der Leipziger Baukunst, modern zu sein, waren nicht wenig Irrwege. Einige Experimente schlugen dermaßen fehl, daß der Historismus es nicht schwer hatte, seinerseits sich durchzusetzen. Die neue Anknüpfung an die Altleipziger Bautradition ist bekannt, ja sogar populär. Der Pseudomodernität gegenüber aber, die abgewirtschaftet hatte, behauptete ein Künstler ganz allein das Feld. Paul Möbius war es, der in der Bahn der echten modernen Bauweise ganz allein kämpfte. Dieser große Künstler hat sein Lebenswerk nicht erfüllen können, er wurde vorzeitig abgerufen, und so glänzend und bedeutend seine Bauten dastehn, es schlummerten noch schönere Hoffnungen in ihnen, die der zu früh Dahingeraffte mit sich ins Grab nahm.
Paul Möbius besaß vielleicht unter allen Leipziger Architekten den größten Sondergeschmack, die bedeutsamste Eigenart, die individuelle Note. Sein Geschmack ging so abseits von betretenen Pfaden, stellte sich so schroff gegen das Übliche und Herkömmliche, daß vielen, besonders solchen, die immer nach ‚Gemütlichkeit‘ fahnden, sein Bauen nicht einging. Dieser Geschmack stellte ihn in den Bereich einer wahrhaft modernen Baukunst.
Man kann seine Bauweise gegensätzlich schildern, indem man sie vom Schlechten und Üblichen her beleuchtet, man kann sie positiv schildern, indem man aus ihr selbst die Charaktermerkmale hervorhebt, die sie auszeichnen und das Schlechte und Übliche weit hinten in dem wesenlosen Schein liegen läßt, in dem es verfaulen soll. Dieser positive Weg sei hier beschritten. Er drängt sich auch von selbst zu, weil die Individualität dieses Baukünstlers eine schlechterdings unvergleichbare ist. Er hat sein Maß weitaus in sich selbst.
Das erste, das ins Auge fällt, – wie man denn schon beim Schaffen eines Künstlers auf den ersten Blick das Ganze zu umfassen vermag -, ist seine große Materialtreue und Materialechtheit. Er läßt das Material vom edelsten geschliffenen Granit bis zu den in der einfachsten Weise verputzten Mauerflächen in jedem Sinn zu seiner Wirkung gelangen. Die Verwendung verschiedener Materiale an ein und demselben Bau geschieht mit einem so großen Geschmack, daß sie sich gegenseitig in der feinsten Weise heben. Dies reicht von den Pfeilern für die Umgitterungen bis zum Dachknopf und den Schornsteinspitzen hinauf. Es ist ein echt kunstgewerblicher Charakterzug des Baumeisters. Wie er denn auch im Kern der Häuser für die solide und zweckmäßige Innenausstattung seinen kunstgewerblichen Sinn wirksam sein läßt.
Dann drängst sich dies auf, was man etwa den Möbiusschen Formgedanken nennen könnte, eine großartige Unabhängigkeit von allen renaissancistischen oder sonstigen Schematismen mit samt dem ornamentalen Beiwerk, ein ganz eigenes Schaffen mit neuen und zweckvollen Raumempfindungen, die immer Größe haben und Größe erzeugen. Nichts Kleinliches, nichts Verzierlichtes steckt darin, kein Zuckerguß der Phantasie, auch die kleine Villa strahlt bei aller Freundlichkeit und Anmut eine hohe Empfindung aus. Und auch bei den Wohnhausbauten ist es nicht etwa die Größe der Verhältnisse, die den Eindruck dieser Monumentalität erzeugt; es ist vielmehr jener bestimmte Adel in der Abmessung dieser großen Verhältnisse, dieses Ineinsklingen der Höhe der Geschosse, des Gewändes, der Fenstermaße, der Dacherhebung.
Eine raumbildende Phantasie, die mit einem ganz bestimmten Formgedanken arbeitet, war hier am Werk; und die Konstruktionsformen, die sich vom Kern in die Gewandung hinausprägen, erscheinen da draußen als monumentale Fassade. Diese kann dann noch weiter in der mannigfaltigsten Weise gegliedert und bereichert werden, von der einfachsten Ausgestaltung durch ornamentale Motive bis zu Erkern, Giebeln und Dachbekrönungen.
Und ob sich oben die Dachlinie in der Mittelsenkrechten der Schauseite aufbiegt, und das ganze Motiv des Hauses in der wuchtig geschwungenen Form des Körpers ausdrückt, ob eine Art Turmknauf den Abschluß bildet, ob zwei die Geschosse durchdringende, halbrunde oder ovale Erkerausbiegungen die Fläche beleben, ob die Fassade mit einem Gesträhn der für Möbius charakteristischen ornamentalen Stäbe belegt ist, – der Gesamteindruck ist stets Monumentalität, alles verschmilzt in eins; mit starker Hand ist die ganze architektonische Erfindung zusammengefaßt und gebändigt. Dazu kommt noch die Gestaltung der Simse, der Eingänge, der Tore hier und die Gestaltung des prachtvollen Daches mit seiner aus dem Bau sich ergebenden Hutform und seinen Schornsteinen dort. Wie so alles ins Ganze wirkt, ist ein mächtiger Eindruck die Folge.
Das abschließende Wort gelte dem Ornament. Möbius benutzt ein ganz einfaches Stab- und Bandornament, mit dem er die Simse kräftigt, den Dachlinien folgt, die Wandflächen umrahmt und zusammenfaßt, die Stockwerke, bald in einer mehr wagrechten, bald in einer mehr senkrechten Verwendung zusammenspannt. Freilich verdicken sich manchmal diese Stäbe und Bänder oft zu unförmlichen Wülsten und die Linienverschlingungen erscheinen öfters als manieriertes Spiel, bei solchen Bauten hat dann der ornamentale Gedanke seine definitive, notwendige Form nicht erreicht.
Man hat in seiner Ornamentwelt gerne assyrische und ägyptsche Motivanklänge sehen wollen; doch konnte Möbius von gewundenen Schlangenleibern und gebogenem Rauchgewölk von selbst zu jenen geschwungenen Linien oder vielmehr Bändern und Stäben kommen, die er so oft und mit solcher Vorliebe verwendet hat. Die Möbiussche Ornamentik wirkt überzeugend und selbstverständlich, wo sie aus den eigensten struktiven Gedanken eines Baues herausgewachsen ist; dagegen bleibt dort, wo sie der Baugestalt nicht angeboren ist, der Eindruck eines nicht völlig gelösten Problems bestehen.
Die beschriebenen Charakterzüge sind an fast allen Möbiusschen Bauten in der mannigfaltigsten Verwendung zu finden. Von den Wohnhäusern sind die an der Johannis-Allee, an der König-Johannstraße (heute Tschaikowskistraße), an der Kronprinzstraße (Kurt-Eisner-Straße), an der Frankfurterstraße (Jahnallee) und an der Härtelstraße die bedeutsamsten. Als Geschäftshaus entstand die Grüne Eiche in Lindenau neu unter seiner Hand, gleichfalls ein adliges, mächtig in die Höhe strebendes Werk mit dem graziösen Restaurationsanbau. Möbius hat sein Bauprinzip mit großem Glück auf Villen ausgedehnt, denn es sind samt und sonders treffliche Leistungen, die Quecksche Villa mit ihrem Atelierproblem und dem durch die Figur des Hauses besonders charakteristisch geratenen Dach, die Loosesche Villa mit ihrer allseitigen Durchbildung, ihrem Eingang und mit ihrer Hineinbeziehung des ganzen Gartens in den Baugedanken.
Das letztere wiederholt sich bei den eminenten Villen von Buchheim und Görke, auch dort wächst das Haus aus dem Gartenraum und der Konstruktionsgedanke beginnt schon bei der Umgitterung. So groß aber der malerische Reiz der letztgeannten Werke ist, die Loosesche verdient unter den Leutzschern doch den Preis. Die neue Villa an der Montbéstraße bildet eine Klasse für sich. Es ist das souveränste Werk. Es ist nicht die prunkvolle Bekleidung mit geschliffenem Granit, sondern diese reinste und tiefste Musik, in der hier der Gestaltungsgedanke erklingt. Vom schlichten und mit unendlicher Anmut gezogenen Gitter geht der Blick über die Rasenfläche zum Haus und fühlt den Linien, die hier durch Treppenaufgang, Balkon, Fensterdurchbrechungen bis zum Dachfirst hinauf geschaffen sind, eratmend nach. Die Ornamentierung hat hier ihren freiesten, zweckmäßigsten und abstraktesten Ausdruck gefunden. Schmuck und Bau sind eins, und das Ganze erfüllt mit der tiefsten ästhetischen Befriedigung. Das monumentale Schaffen von Möbius hat sich auch in Grabdenkmälern ausgesprochen, am wuchtigsten und großartigsten in dem Grabmal für die Familie Gottschalck, dessen kolossalisch steinerner Bezirk den Besucher mit Ewigkeitsempfindungen überatmet.
Das Werk, das Paul Möbius hinterließ, ist reich und groß, aber es ist kein Ersatz oder Trost für das, was er an Plänen und Entwürfen nicht verwirklichen konnte, weil er zu früh ins Grab sank. Es wäre ein fauler Resignismus, nicht zu bedenken, wie jäh sein Schaffen zerschnitten wurde. Der Schöpfungen eines, der als Greis in die Grube fährt, kann man sich restlos freuen, was aber an Ungeborenem mit Paul Möbius hinweggenommen wurde, das erzeugt nur ein Gefühl, das der Trauer.“
Paul Möbius lebte von 1866 bis 1907, über ihn gibt es u.a. das sämtliche Bauten aufführende Buch „Paul Möbius – Jugendstil in Leipzig“ (2007 erschienen, von Stefan W. Krieg und Bodo Pientka) sowie eine Daueraustellung im Möbiushaus in der Georg-Schumann-Straße 126 (erstellt und betreut vom Arbeitskreis Gohliser Geschichte, der eine reich illustrierte Broschüre zu Möbius‘ Wirken auf Lager hat, Kontakt: arbeitskreis-gohliser-geschichte@gmx.de)