Mit Peter aus Schleußig* (wir kennen lustigerweise zwei davon) haben wir schon länger Kontakt. Unlängst saßen wir in der Pleißenburg zusammen, Peter hatte Frank mitgebracht. Beide sind alte Leipziger Stammtischbrüder, haben eine Menge interessante Sachen zu erzählen und für uns die Geschichte ihrer seit Januar 1979 aktiven Runde aufgeschrieben. Herzlichen Dank!
(F.H.**) Für einen langjährigen Stammtisch braucht man erstens eloquente Leute mit vielseitigen Interessen – keinen Hobbyclub mit beschränktem Ansinnen -, zweitens eine Gaststätte mit abgetrenntem Raum, drittens aber akzeptierte Statuten und regelmäßiges Erscheinen. Hinkt es schon an einer Stelle, welkt der Stammtisch gar balde. Stammtische gibt es in Leipzig wenigstens seit dem 19. Jahrhundert, den bekanntesten bildeten die Davidsbündler mit Robert Schumann im Coffe-Baum von 1833 bis 1840, immerhin sieben Jahre, gar allabendlich (!), wenn es auch „nur“ um Musik ging. Unser Stammtisch, mit monatlicher Tagung und wesentlich breiterem Spektrum, geht nun ins 44. Jahr. Wer bietet mehr? Im „Leipziger Kalender“ von 1906 ist „Etwas vom Leipziger Stammtisch“ zu lesen. Es wurden da viele Stammtischrunden mit ihren Namen sowie den jeweiligen Lokalitäten aufgeführt. Einer hieß Lerchenschachtel, mit der Centralhalle als Lokal. Jenen Namen ließen die Gründer unseres jetzigen Stammtisches wieder aufleben. Nun zur Historie.
Teil 1: Im Kaffeebaum bis zur Wende
Ab Anfang der 1970er trafen sich im altehrwürdigen Kaffeebaum, im Kaisersaal***, monatlich an einem Freitagabend ein paar Typen, zusammengesetzt aus einem studentischen Elferrat und Mitgliedern eines christlichen Posaunenchors, um trotz jugendlichen Alters alte Burschenherrlichkeit zu pflegen, mit Gesang, festen Thematiken und straffen Regeln aus einem verblichenen Kommersbuch. Aus dieser elitären Truppe mit teilweise ausgetauschten Mitgliedern entstand 1979 die Neue Leipziger Lerchenschachtel (NLLS), wieder im Kaisersaal des Kaffeebaums, der nur ein abgetrenntes Zimmerchen für maximal 25 Nasen war, mit einer Schwingtür und einer nur mit Bedacht zu läutenden Glocke an langem Strick.
Jene Schar verstand sich statutengemäß als Vereinigung zur Pflege Alt-Leipziger und progressiver studentischer Traditionen, freilich gar nicht auf Parteikurs. Obschon wir Stammtischler einen erst viel später enttarnten IM in der Gruppe hatten und sorglos riskante politische Witze ohne Ende rissen, blieb die Stasi unbeliefert, so dass wir nie irgendwelche Belästigungen von Horch & Guck erfuhren. Ein Dank an jenen, der immer am Fenster saß. Und der Witz war ja noch, dass die „Firma“ im Kaffeebaum im ersten Stock eine konspirative Wohnung unterhielt …
Mehr oder minder anspruchsvolle Themen wurden humoristisch referiert wie „Der überschäumende sächsische Karneval“, „Zur Lage des Messfremden“, „Zur Klassifikation der Liebesarten“ (mit Ausschluss der Liebe zur Sowjetunion) usw. usf.. Es gab feste Funktionen, eine Protokollführung, Einladungsformulare; und die oft intonierten altstudentischen Gesänge sowie die Referate wurden nur unterbrochen durch das Erscheinen der halben Liter Ur-Krostitzer, die Oberkellner Hans Blankscheen herbeischleppte. Ach, wer kennt noch den ganz eigenen Geruch des alten Kaffeebaums, sofort in die Nase steigend, wenn man die schwere Eingangstür aufgewuchtet hatte, dieses Aroma aus Tabaksqualm, Frittenfett, Spülicht, abgestandenem Bier und Gestank vom Pissoir?
Nach 24 Uhr kletterten wir immer gut abgefüllt auf den Rand des Lipsia-Brunnens und intonierten etwas schwankend die „Alte Burschenherrlichkeit“. Bewohner des Viertels, die daran Anstoß nehmen konnten, gab es kaum, da damals noch manche Ruine das Umfeld säumte. Einmal tanzten wir zu mitternächtlicher Stunde zwischen den Buden des Weihnachtsmarktes Swing – zu den Klängen eines Grammophons mit Federlaufwerk, argwöhnisch betrachtet von frierenden Marktwächtern. Was war das herrlich und wir noch jung!
1984 gründete sich nach immer deutlicheren Verstößen gegen den oben angeführten dritten Punkt der Stammtisch-Erfordernisse der harte Kern der NLLS nun zur LLT (Leipziger Litertafel) neu, mit demokratischen Wahlen des Vorstandes, mit Stammtischinsignien und allerlei Außenaktivitäten wie Gartenfeste, Familienwanderungen, Besuche von Stätten mit historischer Bedeutung usw., die über das monatliche Hocken im Lokal weit hinausgingen. Eine cassa wurde eingeführt, Statistiken über Besuche und Konsum angelegt. Zu Messezeiten durften wir weiterhin im Kaisersaal singen und zechen, mussten aber den exorbitanten Messepreis von 2,80 Mark pro halbem Liter zahlen, sonst 1,35 Mark. Man stelle sich Rechnungen für gar acht Halbe pro Nase zu den heutigen Preisen in Euro vor! Trotzdem brachte die Messe zweimal im Jahr Abwechslung in die immer bleierner werdende Zeit der 80er Jahre. Einer dichtete:
Was gann’s wohl Schönres auf Ärdn gähm,
als wie zur Messe in Leibzch zu lähm.
Wenn de Nuddn über de Straße loofn
und de Leite allen Blunder koofn,
wo de im Gequerrle ganz ärre wärscht
un jeder Westarsch sich offiehrt als Färscht –
da gehste – s gönndr mir glaum,
am besten ähm in’n Gaffeebaum.
Dort knallste Dir baar Dinger ins Geherne
Un denkst dr, oh Messe, dich habsch gerne.
Mit der Wende war die Kaffeebaum-Herrlichkeit beendet; die marode HO-Gaststätte schloss nach kurzem Aufbäumen für sieben Jahre – und die LLT war, wie auch andere ehemalige Stammtische dort, nun ohne Domizil, siehe oben genannter zweiter Punkt der Stammtischerfordernisse.
– wird fortgesetzt –
* siehe u.a. unsere Beiträge „Peters Erinnerungen“ (April 2021), „Durch die grüne Gasse“ (Februar 2020) sowie „Riebeckteich und Eisfabrik I“ (März 2016)
** F.H. = Dr. Frank Hille, von ihm stammen der Stammtisch-Text und die Grafiken aus der Chronik
*** dort waren wir schon einmal mit einem anderen Stammtisch, siehe „Fortsetzung Forchner“ (April 2014)