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Die Hilfsschule West II

Die Hilfsschule West II
Apsis in der Turnhalle
Apsis in der Turnhalle

Im März waren wir in der ehemaligen Hilfsschule in der Engertstraße*; man erzählte uns, dass deren Turnhalle in der Vergangenheit für Gottesdienste genutzt worden war. Die Apsis in der hinteren Wand ist bis heute zu sehen – ein ungewöhnliches Detail. Wir wandten uns an die der Schule benachbarte Liebfrauenkirche und erfuhren Erstaunliches.

Die Schule wurde 1898 eingeweiht und recht bald erweitert. Damals standen weder Pfarrhaus noch Kirche nebenan, die katholische Gemeinde (im evangelischen Sachsen!) begann hier im Leipziger Westen mit einer Bildungseinrichtung, der 3. katholischen Volksschule, und nutzte deren Turnsaal an Wochenenden für die Heilige Messe. Für die wurde jeweils umgeräumt – bis 1909. 1906 kam das Pfarrhaus (direkt neben der Schule, an der Ecke zur Karl-Heine-Straße) hinzu, 1908 die zunächst Marienkirche genannte Liebfrauenkirche** – nach jeweils nur einjähriger Bauzeit!

Als nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und der Novemberrevolution 1918 zu Beginn des Jahres 1919 Wahlen zur sächsischen Volkskammer (!) stattfanden, erhielten SPD und USPD zusammen die meisten Stimmen. Kurz darauf reformierten sie u.a. die Bereiche Volksbildung und Kirchenwesen (Quelle: „Geschichte Sachsens“, erschienen 2001 in der Edition Leipzig). „Die SPD/USPD-Regierung wollte Schulen nicht in kirchlicher Hand haben“, sagt Liebfrauenkirch-Archivar Bernhard Dreyer, es kam Anfang der 1920er Jahre zu einem „Zwangsverkauf“. Der Trägerverein nahm das Geld an, Lehrer und Schüler durften das Gebäude weiterhin nutzen.

Aus der Kirchenchronik: „Die kathol. Volksschule, die in der Vorkriegszeit über 1000 Kinder zählte, hat am Ende des Schuljahres 1927/28 nur noch 373. Ursachen: Wegzug kinderreicher Polenfamilien*** und Mindergeburten im u. nach dem Weltkriege.“

Am 16. November 1937 titelte die Leipziger Tageszeitung: „Ein neuer Geist zog ein – Die dritte katholische Volksschule wurde HJ.-Heim“. Das geschah im Rahmen der „Heimbeschaffungsaktion“ der HJ (Hitler-Jugend). Die Zeitung schreibt weiter: „… daß die Nische dieser Halle (gemeint ist die Turnhalle), die einst Heiligenbilder enthielt, heute mit dem Bilde des Führers … geschmückt ist. Hielt man es einstmals für nötig, diese Heiligenbilder während des Turnunterrichtes zu verhängen, so soll die neue Jugend bei all ihrem Tun den Führer vor Augen haben.“ Lehrer und Schüler wurden in die 46. Schule in der Saalfelder Straße verlagert.

Die „neue Jugend“ verließ das Gebäude in der damaligen Friedrich-August-Straße kurz vor Einzug der Amerikaner in Leipzig, am 18. April 1945 vermerkt die Chronik: „Die Hitler-Jugend nebenan hat in der Nacht das Feld geräumt – die ‚Panzerfäuste‘ liegen verlassen am Bahndamm; am Tage vorher hatten sie schon selbst aus Hitlerbildern usw. einen Scheiterhaufen entzündet. Das Haus steht offen und leer.“

Und weiter lesen wir: „… inzwischen sind auf dem Plagwitzer Bahnhof die ersten Speicher und Lagerschuppen – wer weiß von wem! – geöffnet worden. Es beginnt ein immer stärkeres Wegschleppen und Raffen – zuerst mit den Händen, dann mit kleinen und immer größeren Handwagen und Karren! Das Rattern der Wagen geht bis in den Abend und beginnt wieder am frühen Morgen, sobald es die ‚Sperrzeit‘ erlaubt. Es bleibt nichts übrig – auch nicht das Flüchtlingsgut, das dort deponiert war!“

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Schule wieder Schule, von 1946 an Hilfsschule West, seit 1992 Fritz-Gietzelt-Schule – Schule zur Lernförderung; 2004 zog diese von der Engertstraße 14 in den Kantatenweg 40 (siehe www.leipzig.de).

Herzlichen Dank an Bernhard Dreyer und Pfarrer Thomas Bohne, die sich Zeit für uns und unsere Neugier ernst nahmen. Pfarrer Bohne haben wir übrigens schon im Januar 2013 in unserem Beitrag „Bei Reuschels“ erwähnt und jetzt im Juni 2014 persönlich kennengelernt.

www.liebfrauen-lindenau.de

* siehe unseren Beitrag „Die Hilfsschule West I“ (März 2014)
** die dritte katholische Kirche in Leipzig, nach der ersten am Neuen Rathaus (die wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, der aktuelle Neubau am Ring steht damit im Zusammenhang) und der zweiten in Reudnitz, darum auch 3. katholische Volksschule
*** Bernhard Dreyer erzählt, dass die Liebfrauenkirche früher umgangssprachlich auch „Polenkirche“ hieß und der in Sichtweite gelegene Plagwitzer Bahnhof „Polenbahnhof“

Nachtrag: Am 26.07.2014 ist die Turnhalle wiedereröffnet worden.