Im Mai 1924 schrieb Dr. Paul Zinck das Vorwort zu seiner Sammlung „Leipziger Sagen“, die wenig später im Verlag von Hegel & Schade erschienen ist. Ein Kapitel darin trägt die Überschrift „Alte Leipziger Wahrzeichen“. Wir möchten aus diesem die Ausführungen zum Hufeisen an der Nikolaikirche hier wiederveröffentlichen.
„Nun werdet ihr euch gewiß einmal das große, hinter einem Gitter an der Ostseite der Nikolaikirche eingemauerte Hufeisen ansehen, nun ihr gelesen habt, daß es mit zwei Leipziger Sagen in Zusammenhnag gebracht worden ist. Es müßte ein Riesenpferd gewesen sein, das es an seinem Hufe getragen hätte. Weder der Ritter Georg noch der Markgraf Diezmann* wird ein solches geritten haben. Übrigens soll in anderen Gegenden Deutschlands mit Hufeisen ähnliches geschehen sein wie hier in Leipzig. Das Hufeisen spielt ja überhaupt in Deutschland wie auch in anderen Ländern Europas bei abergläubischen Leuten – und deren gibt es viel mehr, als wir manchmal denken – eine große Rolle.Hufeisen werden als Amulette oder Glückszeichen an Uhrketten und Armbändern getragen; man malt sie auf Glückwunschkarten zum Geburtstage oder zu Neujahr; auf Dörfern nicht nur, nein auch in Städten – in Berlin sogar – befestigt man Hufeisen, besonders wenn man sie gefunden hat, als Schutzzeichen an Türen und Toren. Uralt scheint dieser Glaube zu sein, aus altgermanischer, heidnischer Zeit scheint er zu stammen. An der Domkirche zu Wexiö in Schweden kann man auch solch ein Hufeisen sehen; Odins Roß Sleipnir soll es verloren haben, als Odin, der alles beherrschende Gott, seinen Zug über die Berge hielt; als das erste Geläute zur ersten christlichen Messe rief, erschrak er so sehr, daß sein Roß einen gewaltigen Schlag gegen den Felsen führte.
Odin oder Wotan spielt auch im Aberglauben unserer Zeit noch in einsamen, waldreichen Gegenden eine Rolle; an der Spitze des wilden oder wütenden Heeres zieht er in stürmischen Herbst- oder Winternächten über das Land dahin. An seine Stelle ist, wie alle Kinder wissen, der heilige Nikolaus getreten, der in der Weihnachtszeit wenigstens die bösen Kinder schreckt. Ob es mit dieser Übertragung des Wotanglaubens auf den christlichen Heilgen zusammenhängt, wie ein alter Schriftsteller meint, daß man gerade an dem heiligen Nikolaus geweihten Kirchen eingemauerte Hufeisen findet? Sicher ist, daß all diese Hufeisen ein Geheimnis umgibt, daß sie vom wunderlichsten Gerank der Sage und Legende umwoben sind. Und es hat viele gegeben, die dieses Gerank zerstören wollten, die mit der Leuchte der Geschichtswissenschaft in das geheinisvolle Dunkel hineingeleuchtet haben. Nach der Meinung eines alten Forschers sollen die Hufeisen an Kirchen vielleicht anzeigen, daß bei diesen eine ‚Eligiana Societas Charitatis Christianae‘, d.h. eine ‚Gesellschaft in Not und Tod‘ bestanden habe, die sogar die Pesttoten zur Erde bestattete; dem Bischof Eligius von Soissons, der diese Gesellschaften zuerst stiftete, war als Schutzpatron der Schmiede das Hufeisen heilig. Der alte Leipziger Geschichtsschreiber Johann Jakob Vogel spricht in seinem Chronicon die Vermutung aus, daß das Hufeisen einem Schmiede zu Ehren angeheftet worden sei, welcher der Nikolaikirche ein bedeutendes Vermächtnis hinterlassen habe, und ein späterer Leipziger Geschichtsforscher, Professor Gretschel, wirft in seinem Büchlein ‚Der Friedhof bei St. Johannis‘ die Frage auf, ob das Eisen nicht auf das Erbbegräbnis eines Schmiedes oder einer Familie Schmidt in oder an der Nikolaikirche hinweisen könne.
So hat dieses einfache Eisen Jahrhunderte hindurch die öffentliche Meinung Leipzigs beschäftigt, ja es ist weit über die Grenzen Leipzigs bekannt gewesen; spielten doch derartige Gegenstände, um die sich ein bunter Kranz von Sagen und Erinnerungen bildete, oft eine wichtige Rolle im Handwerkerleben. Zuwandernde Handwerksburschen mußten meist, wenn sie die ortsübliche Unterstützung erhalten oder bei einem Meister eingestellt werden wollten, die Orte aufzählen, die sie auf ihrer Wanderschaft berührt hatten, und wurden dabei, um die Wahrheit ihrer Aussagen zu prüfen, nach den Wahrzeichen dieser Orte auf das genaueste befragt; als solche Wahrzeichen wählte man aber ‚kleine, verborgene, nur dem Eingeweihten bemerkbare und auffallende Absonderlichkeiten‘, wie sie die Laune des Künstlers, der Zufall oder ein Versehen entstehen ließen. Um ihre Kenntnis mußte sich demnach jeder ehrsame Handwerksgesell, der auf der Walze war, redlichst bemühen; denn sie war eine Art Reisepaß für ihn. Ein solches Wahrzeichen war aber für Leipzig das Hufeisen an der Nikolaikirche.“
* siehe u.a. „Markgraf Diezmanns Ende“ in Zincks Buch; Diezmann reitet darin ohne Begleitung von der Pauliner- zur Thomaskirche, als er einen vermummten Ritter hinter sich bemerkt. „Um ihm zu entgehen, spornte er sein Roß mächtiger an, so daß ein Hufeisen desselben weit bis zur Nikolaikirche flog …“
Herzlichen Dank an Hans-Werner, der uns das hundert Jahre alte Buch zur Verfügung stellte!