Im Amtlichen Firmen- und Bezugsquellenverzeichnis der Stadt, aufgeteilt in Leipziger Industrie (1946) und Leipziger Handwerk (1947), stießen wir auf die Pariser Straße, von der wir bislang weder gehört noch gelesen hatten. Das Leipzig-Lexikon.de klärte uns auf, dass es sich bei der Pariser um die heutige Virchowstraße handelt – die Umbenennung erfolgte im Herbst 1950 – und die Namensgebung auf dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 beruht.
Das aber nur so als Detail zu Beginn, denn eigentlich möchten wir u.a. an Keksfabriken erinnern, von denen es heute in unserer Stadt keine einzige mehr geben wird. Damals gab es Herbert Fleißner, Lange Straße 8, Hensel & Co., Fichtestraße 9, Kretzschmar & Spörl, Blümnerstraße 25, Oskar Ruschig, Petersstraße 39-41, Gustav Salomon, Delitzscher Straße 69, Albert Stengel & Co., Floßplatz 6, und Max Weiße in der Birkenstraße 32. Wenn doch wenigstens drei davon noch existierten …
Bleiben wir bei Essbarem: Thurm & Wunder Nachf. in Böhlitz-Ehrenberg produzierten u.a. kochfertige Suppen, ihr Gebäude in der Paul-Langheinrich-Straße steht seit Jahren zum Verkauf. Die Gebrüder Hasenohr – herrlicher Name – füllten im Gerichtsweg 12 Rohkonserven ab, während die Gebrüder Schumann im Dösner Weg 16 Sauerkraut und Gurken einlegten. Die zugehörige Fabrikruine wartet seit Jahren kurz hinterm Bayrischen Bahnhof auf ihr letztes Stündchen. Ganz in der Nähe, in der Hohen Straße 36, kümmerte sich Bernhard Sauerwald um die Herstellung von Fruchtsirup …
Lustige Abkürzungen trugen das Tauchaer Afro-Werk* (Pfefferminzkomprimate, Drops, Bonbons), die Arkö-Zuckerwarenfabrik in der Wasserturmstraße 8 und die Ruk-Bonbonfabrik in der Dörrienstraße 1. Afro steht keineswegs für einen Haarschnitt in Boney-M-Optik, sondern für Adolf Frost, Arkö für Arno Kölbel und Ruk für Rohne & Kühnast, alles ziemlich einfache Markennamensschöpfungen. Robert Weber**, der in Stahmeln Essig und Senf zu Gold machte, tat dies unter seinem Klarnamen, ebenso die Gebrüder Werner aus der Luisenstraße 9, wie Weber tätig im Senfgeschäft.
Gut gefällt uns auch der vollkommen aus der Mode geratene Begriff Galanteriewaren***, unter dem im Verzeichnis Tafelgeräte, Werbe- und Geschenkartikel, Trauringe, Papiergalanteriewaren sowie Edelschmelz und Edelschmuck aufgeführt werden. Unendlich Interessantes und Kurioses lässt sich noch finden, wir beschließen unsere Exkursion in die Vergangenheit hiesiger Gewerke und Gewerbe mit den Bürsten- und Pinselmachern und mit den Korbmachern und Stuhlflechtern.
Zuguterletzt kehren wir zurück in die Pariser Straße und zu Bäckermeister Alfred Mieth in der 6a. Dort essen wir in unserer Fantasie Kekse, Mürbchen oder irgendein anderes Süßgebäck und laufen anschließend hinter zur Nummer 21, über deren Eingang steht: „Ist mir auch draußen Kampf beschieden / In meinem Hause find ich Frieden …“, vielleicht eine Anspielung auf den Deutsch-Französischen Krieg.
Herzlichen Dank an Susi und Holger, die uns die alten Adressbücher ausgeliehen haben!
* siehe unseren Beitrag „Die alte Dropsfabrik“ (Januar 2020)
** siehe unseren Beitrag „Essig aus Stahmeln“ (Dezember 2017)
Herzlichen Dank ebenso an Thomas, der über unsere Facebook-Seite diese Ergänzungen schickte: „In Gohlis gab es zwischen Coppiplatz und Virchowstraße ein ganzen Viertel dessen Straßen nach Heerführern oder Schlachten im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 benannt waren. Deshalb nannte man es im Volksmund auch das Franzosenviertel. Ich habe die alten Straßennamen und deren Bedeutung mal aus den historischen Adressbüchern herausgesucht.
Lothringer Straße (Coppistraße)
Lothringen ist ein Gebiet im heutigen Frankreich, das nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1871 an Deutschland fiel.
Beaumontstraße (Heinrich-Budde-Straße)
Schlacht bei Beaumont, Sieg des sächsischen Kronprinzen am 30.8.1870.
Blumenthalstraße (Würkertstraße)
Graf Leonhard von Blumenthal, Generalfeldmarschall.
Werderstraße (Corinthstraße)
August Graf von Werder, preußischer General.
Craushaarstraße (Adolph-Menzel-Straße)
Sächsischer Generalmajor Ernst Adolf von Craushaar, gefallen bei St. Privat am 18.8.1870.
Fabricestraße (Rudi-Opitz-Straße)
Georg Friedrich Alfred Graf von Fabrice, sächsischer Kriegsminister und General der Kavallerie.
Roonstraße (Otto-Adam-Straße)
Albrecht Theodor Emil Graf von Roon, preußischer Kriegsminister und Generalfeldmarschall.
Gravelottestraße (Wilhelm-Plesse-Straße)
Schlacht bei Gravelotte am 18.8.1870.
Friedrich-Karl-Straße (Sasstraße)
Prinz Friedrich Karl von Preußen, Generalfeldmarschall, Armeeführer 1866 und 1870/71.
Straßburger Straße (Daumierstraße)
Benannt nach der elsässischen Stadt Straßburg, 1871–1918 Hauptstadt des deutschen Reichslands Elsass-Lothringen.
Goebenstraße (Max-Metzger-Straße)
August von Goeben, preußischer General der Infanterie, 1870/71 Kommandant des VIII.Armeekorps.
Metzer Straße (Dietzgenstraße)
Zur Erinnerung an die siegreichen Kämpfe 1870 um Metz, Kapitulation von Metz am 27.10.1870.
Briestraße (Etkar-André-Straße)
Schlacht bei Brie-sur-Marne, wo die sächsische Armee unter Kronprinz Albert am 30.11. und 2.12.1870 gewann.
St.-Privat-Straße (Michael-Kazmierczak-Straße)
Zur Erinnerung an den Sturm der Sachsen auf St. Privat am 18.8.1870.
Pariser Straße (Virchowstraße)
Benannt in Erinnerung an die Belagerung von Paris im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71.“
*** Nachtrag im November 2022: Es gibt noch Galanteriewaren! In der Karl-Liebknecht-Straße, der Laden heißt Südseite.