Vor wenigen Wochen meldete sich Berenika Serwatka per Mail bei uns. „Ich studiere an der Universität Łódź im Studiengang Internationaler Journalismus. Derzeit arbeite ich an einer Reportage über Leipzigs Identität – wie sich die Stadt entwickelt hat, was sie prägt und welche Perspektiven sie besonders machen. Der Text wird zudem ein Bestandteil meiner Bachelor-Arbeit sein“, schrieb sie und bat um ein Treffen.
Wir sagten zu und saßen kurz darauf gemeinsam im Bäckercafé Wendl an der Gohliser Friedenskirche. Die junge Polin wollte alles Mögliche wissen und wir kamen von einer Sache zur anderen – so strukturiert und gut sortiert im Kopf, wie man denkt, ist man gar nicht, wenn andere die Fragen stellen. Welche Leipziger Sehenswürdigkeit würden wir empfehlen, wenn wir nur eine nennen könnten? Das Völkerschlachtdenkmal. Warum? Weil es schon rein optisch, baulich und von der Anlage drumherum so groß und beeindruckend ist und außerdem Teil bzw. Zeugnis europäischer Geschichte.
Über welche Besonderheiten verfügt unsere Stadt? Sprachlich u.a. über die Worte Freisitz (für Biergarten) und Mürbchen (für ein Gebäckstück, das andernorts z.B. Sandtaler genannt wird), kulinarisch über die Lerche und die Gose, letztere war ab Mitte des 18. Jahrhunderts das lokale „Nationalgetränk“, verlor nach dem Zweiten Weltkrieg an Anziehungskraft und wurde in den 1980er Jahren erfolgreich wiederbelebt, sowie architektonisch über Passagen und Messehäuser bzw. sogar Messpaläste (die leider nicht mehr als solche genutzt werden) in der Innenstadt.
Wir liefen mit Berenika von Wendl rüber zur Gosenschenke sowie gleich weiter zum Gohliser Schlösschen, das im Vergleich mit „richtigen“ Schlössern klein ist, Leipziger allerdings zeigen es gerne. Für erwähnenswert erachten wir außerdem die Leipziger Kaffeeschüssel, die Unmengen an Kleingärten mitsamt der zweiseitigen Historie von Dr. Schreber, das Gelten als Hochschul- und Studentenstadt, als Ausgehstadt, als Kabarettstadt und als Standort des im weiteren Umfeld einzigartigen Krystallpalast-Varietés.
Nicht vergessen wollen wir zudem das Gewandhaus, die Herren Bach, Goethe und Schiller, auf die wir stolz sind, ohne uns näher mit ihnen zu befassen, den 500 Jahre alten und durch Goethes „Faust“ berühmt gewordenen Auerbachs Keller, das ehemalige Reichs- und jetzige Bundesverwaltungsgericht, das wie der Berliner Reichstag aussieht, sowie die landschaftliche Besonderheit der absolut flachen Leipziger Tieflandsbucht.
An der Leipziger Seele nagt der Bedeutungsverlust. Wir waren bis zur Wende Messestadt, Buchstadt, Sportstadt, zweitgrößte Stadt des Landes und wichtiger Industriestandort. Die Buchmesse ist übriggeblieben und auch die Deutsche Bücherei am alten Gelände der Technischen Messe. Weitere wunde Punkte: Der Astoria-Verfall schmerzt ebenso wie die Verkleinerung des Stadions der 100.000, der Abriss des Schwimmstadions oder des 1989 wichtigen Blauen Wunders.
Als Balsam für die verletzte Seele dürfen der Erstliga-Fußball und -Handball gelten, die überproportionale Fernsehpräsenz („In aller Freundschaft“, „Elefant, Tiger & Co.“, „Tierärztin Dr. Mertens“, „Soko Leipzig“, „Riverboat“ usw.), das Ansehen als Kunststadt mit Neo Rauch, dessen Auftreten ohne „Gehabe“ ganz nach unserem Geschmack ist, mit HGB und Spinnerei sowie last, but not least das romantisch faszinierende, weltweit ausstrahlende Wave-Gotik-Treffen, anfangs ein Szene-Festival, mittlerweile ein Kostümfest mit Musik.
Welche Überraschungen für Leute, die sie nicht kennen, hält unsere Stadt bereit? Unheimlich viele schöne und reich verzierte Gebäude aus der Gründerzeit und den Epochen von Jugendstil und Art déco, eine Vielzahl an Parks, Wäldern und Wasserwegen (inkl. der Seen), die Slawische Nacht, Poniatowskis Gedenkstein, die Russische Kirche, den Sowjetischen Pavillon und jede Menge gemütliche Gartenkneipen.
Leipzig möchte schon aus geschichtlicher Preußenabneigung (bis in die DDR-Zeit hinein) kein besseres Berlin sein, sondern lieber das oft zitierte kleinere Paris. Der kurze Zeit gern verwendete Begriff Heldenstadt spielt im Alltag übrigens keine Rolle mehr. Leipzigerinnen und Leipziger empfinden sich als grundsätzlich offen, gesprächsbereit, auskunftsfreudig, verfügen aber auch über einen Hang zur Selbstüberschätzung (Beispiel Olympia-Bewerbung 2012) und sind sich größtenteils selbst genug, d.h. sie haben wenig tieferes Interesse für die kleineren Städte der Umgebung einschließlich der überhaupt nicht kleinen „Schwester“ Halle.
Nicht alles fiel uns bei Wendl in Gohlis sofort ein, dafür aber beim weiteren gedanklichen Beschäftigen mit dem Thema nach dem Treffen. Nun sind wir sehr gespannt auf Berenikas wissenschaftliche Ausarbeitung, die es leider erst einmal nur auf polnisch geben wird.
siehe auch unseren Beitrag „Leipziger Spezialitäten“ (März 2016), für den wir uns im Kaffeebaum mit einer Gruppe japanischer Studenten getroffen hatten