(A.H. – Für Julia und die Kinder) In der Richterstraße, zwischen der Ulrichstraße und kurz vor der Einmündung in die Lützowstraße, liegt linkerhand ein unbebautes Grundstück. Welches Mysterium hält das Dickicht dort verborgen? Hier stand einst ein vor 1880 errichtetes Sommerhaus, die Adresse lautete Gohlis, Sidonienstraße 2. Besitzer war der Leipziger Kaufmann Julius Gottschald, welcher am Brühl ein Agenturgeschäft betrieb. Nach 1884 wurde der Landsitz zu einer Villa umgebaut, Gottschalds Tochter Emma hatte geheiratet und benötigte eine adäquate Mitgift. Zwei Jahre später bezog sie mit ihrem Mann Traugott Ernst Friedrich Hasse die neuen Räumlichkeiten. Hasse war von 1875 bis zu seinem Tod im Jahre 1908 Direktor des Statistischen Amts der Stadt Leipzig, außerdem Privatdozent an der Universität, 1886 außerordentlicher Professor an der Philosophischen Fakultät sowie ordentliches Mitglied des Internationalen Statistischen Instituts und ab 1903 Vorsitzender des geschäftsführenden Ausschusses des Verbands Deutscher Städtestatistiker. Darüber hinaus war Hasse ein eifriger Verfechter deutscher Kolonialpolitik.
Da es in der Leipziger Südvorstadt schon eine Sidonienstraße gab, wurde 1897 die Gohliser Sidonienstraße in Richterstraße umbenannt. Damit wurde an Johann Caspar Richter erinnert, den Erbauer des Gohliser Schlösschens. Die Hausnummern wurden vorerst beibehalten. Im Laufe des Jahres 1907 wurde die unweit der Wilhelmstraße (heutige Prellerstraße) endende Gohliser Richterstraße verlängert. Das zu Leipzig gehörende Gelände war parzelliert und wurde nach und nach bebaut. Die Richterstraße endete nun in südöstlicher Richtung an der Prendelstraße (der heutigen Karl-Rothe-Straße). Eigentlich wäre dadurch eine Neuvergabe der Hausnummern notwendig geworden. Es dauerte aber noch bis 1913, dann wurde die Richterstraße neu nummeriert. Nun erfolgte die Zahlenvergabe von Leipzig aus, links die ungeraden Nummern – aus der Hausnummer 2 wurde folglich die Nummer 27. Soweit zum Verständnis der sich ändernden Hausnummern.
Nach dem Tod von Friedrich Hasse verzog seine Witwe 1908 in das angrenzende Eckhaus Richterstraße 25 (damals Nummer 2a) und mietet sich dort in der zweiten Etage ein. Die Immobilie Richterstraße 27 wurde an das Gohliser Baugeschäft Naumann & Mette verscherbelt, das Objekt stand wieder zur Vermietung. Die neuen Mieter kamen aus der bibliophilen Ecke und nannten sich Kippenberg! 1909 bezog Dr. phil. Anton Hermann Friedrich Kippenberg samt Gattin Katharina die romantischen Gemächer. Kippenberg war Buchhändler, Leiter des Insel-Verlags, Literaturhistoriker, Übersetzer und Sammler. Im Mai 1910 erwarben die Kippenbergs schließlich Villa mit Grundstück. Das Anwesen, von Freunden später scherzhaft als Palazzo Chippi tituliert, sollte sich zu einem kulturellen Mittelpunkt der Stadt entwickeln.
Anton Kippenberg war ab 1906 alleiniger Leiter des Insel-Verlags, ab Juli 1912 gab er die Insel-Bücherei heraus. 1914 verlieh ihm Bremen aus Anlass seines 40. Geburtstags eine Ehrenprofessur. Zudem war er seit 1926 Mitglied des Gewandhaus-Direktoriums. Im 1929 konstituierten Rotary Club Leipzig war Kippenberg Gründungsmitglied, er gehörte dem Club bis zur Selbstauflösung im Jahr 1937 an. Unbedingt zu erwähnen ist noch Kippenbergs Engagement in der Goethe-Gesellschaft, in deren Vorstand er seit 1919 mitarbeitete und 1938 die Präsidentschaft übernahm. Nicht verwunderlich scheint daher Kippenbergs Sammelleidenschaft zum Thema Goethe, sie war wohl die bedeutendste deutsche Privatsammlung und umfasste bei Kippenbergs Tod 1950 etwa 25.000 Archivalien. Zur Präsentation der Goethe-Sammlung wurde im Januar 1938 ein Anbau an der Kippenberg-Villa festlich eingeweiht.
Leider hat die Geschichte kein gutes Ende, am 4. Dezember 1943 wurde das Verlagsgebäude des Insel-Verlags (Kurze Straße 7 – heute Spohrstraße) bei einem Bombenangriff zerstört – eine Million Bücher allein der Insel-Bücherei verbrennen. Die Villa ereilte am 27. Februar 1944 das gleiche Schicksal, auch sie versank in Schutt und Asche. Familie Kippenberg überlebte auf Schloss Walbeck im Harz und zog im Herbst 1945 nach Marburg, wohin auch vorsorglich die Goethe-Sammlung ausgelagert worden war. Anton Kippenberg gründete im selben Jahr eine Zweigstelle seines Verlags in Wiesbaden, das Stammhaus blieb zunächst in Leipzig. Am 21.09.1950 starb Kippenberg in einer Klinik in Luzern.
In Leipzig wuchs Gras über Kippenbergs einstiges Domizil, jahrzehntelang. Die Kräfte der Natur und das allmähliche Verblassen der Erinnerungen rückten den Verleger schrittweise in den Schatten der Geschichte. Da gehört er nicht hin! 2001 erschien zur Villa und ihrem berühmten Bewohner eine Broschüre, herausgegeben vom Bürgerverein Gohlis e.V.. Das sehr lesenswerte Werk von Werner Marx trägt den Titel „Die Villa Kippenberg in Gohlis“, auf 60 Seiten mit 22 Abbildungen wird das Thema ausführlich behandelt.