Die Konditorei am Waldplatz besteht seit mindestens 1947. Aus jenem Jahr ist eine Ansichtskarte bekannt, auf dem das Kaffeehaus Reimann heißt und die Adresse noch Frankfurter Straße 29. Seit 1978 bäckt und bedient Familie Schumann in dem kleinen Geschäft, das mit seiner schlauchartigen Form an Lokale in Barcelona oder Rom erinnert. (Wenn man die dort findet, freut man sich und präsentiert sie dann zu Hause als Geheimtipp.) Ein Meisterbrief von 1972 hängt an der Wand, hinter der Theke stehen abwechselnd Vater Helmut (wird 70) und Sohn Andreas (ist 41). Wir bestellen Buttercremetorte und Frankfurter Kranz (wegen der Frankfurter Straße) und kommen ins Gespräch.
Die Konditorei mit Café hat an sieben Tagen in der Woche und an 365 Tagen im Jahr geöffnet, Torten, Kuchen, Brot und Brötchen werden eigenhändig im unmittelbar angrenzenden Hofgebäude gebacken bzw. angefertigt, früh um vier klingelt der Wecker. Andreas Schumann fährt die Ware in den Morgenstunden auch aus, am Wochenende verstärkt seine Mutter Gisela das kleine Team. Vater Helmut, ein alter Leipziger, arbeitete einst als Geselle im Hochhaus-Café unter den Glockenmännern und machte seinen Meister aus organisatorischen Gründen in Halle. Da war er im Café Fritze auf dem Boulevard (Leipziger Straße) zugange; dieses Traditionshaus wurde 1932 gegründet und musste 2002 schließen.
Auch in Leipzig haben seit der Wende etliche Konditoren von ihrem Handwerk Abschied genommen. Helmut Schumann spricht von aktuell gerade mal sieben Innungsbetrieben* und sagt, dass es vor zehn Jahren noch 15 gewesen sind, eine Halbierung. Wer nimmt denen die Kunden weg, fragen wir. Seine Antwort: „Die Kaufhallen.“ Immerhin hat sich im nahen Palais am Waldplatz Kettenbäcker Steinecke die Zähne ausgebissen und aufgegeben, wohingegen es die kleine Konditorei der Schumanns noch gibt. Und während wir sitzen und schwatzen, beobachten wir den stetigen Kundenstrom – von studentisch bis gesetzt, vom Anwohner bis zum Gelegenheitsgast aus der nahen Sachsenklinik.
Schließlich blättern wir im Gästebuch und entdecken historische Einträge von Claudia Wenzel („In aller Freundschaft“), Böhnke & Lange, von Opernsängern, Blasmusikern sowie Sportfest-, Arena- und Stadionbesuchern. Claudia Wenzel verewigte sich hier schon Ende der Achtziger Jahre mit Autogrammkarte und einem Gedicht, damals hatte sie als Hexe Hella in Bulgakows „Meister und Margarita“ auf der Bühne gestanden. Wo? Im nahen Schaupielhaus.
Ein späterer Kollege, Uwe Meyer, lobt 2006 die herrliche Stadt, den angenehmen Menschenschlag sowie den leckeren Kuchen, ein Kabarettist, Tom Dewulf, dankt für die leckeren Brötchen. Immer wieder werden die nette Bedienung und die Bereitschaft zum Plaudern hervorgehoben. Das Schlusswort überlassen wir Claudia Wenzel alias Hexe Hella alias Dr. Vera Bader (IaF): „Vielen Dank für alle Versuchungen und die damit verbundenen Genüsse!“
* laut Kreishandwerkerschaft Leipzig zählen derzeit neben Schumanns die Betriebe von Jacqueline Fischer (Corso, Brüderstraße), Matthias Göbecke (Hans-Poeche-Straße), Alexandra Hachmeister (Zweinaundorfer Straße) und Mario Krüsmann (Endersstraße) zur Innung sowie die von Ulli Flemming (Markranstädt) und Alexander Sommer (Pegau)
Nachtrag am 26.03.2017: Das 1947 vom Verkehrsamt der Stadt Leipzig herausgegebene amtliche Firmen- und Bezugsquellenverzeichnis, Band „Leipziger Handwerk“, zählt 33 Konditoren auf (und verweist auf weitere „mit Bäckereien verbundene Konditoreien“). Richard Reimann aus der Frankfurter Straße 29 ist dabei.
Nachtrag am 07.08.2017: Heute lesen wir in der LVZ, dass Helmut und Gisela Schumann letzten Sonnabend ihre Konditorei am Waldplatz geschlossen haben. Der Arzt des 69jährigen Konditormeisters hatte ihm angesichts mehrerer Herz-OPs dazu geraten.
Nachtrag am 24.04.2019: Im Zusammenhang mit Bäckern und Fleischern bringt die heutige LVZ neue Zahlen zum Thema: Wir zitieren: „Stieg die Zahl der Konditoreien von 167 im Jahr 2008 auf 188 im Jahr 2011, ging sie danach wieder zurück – 2018 gab es 172 Konditoreien“ in Sachsen.