Historische Bücher, Hefte und Publikationen sind schon aufgrund ihres Alters näher an der Geschichte dran als wir hier in der Gegenwart. 1994 erschienen im Verlag im Wissenschaftszentrum Leipzig großformatige Hefte mit dem Titel „Leipziger Osten“. Nummer 2 und 3 kann man im Leipzig-Laden unten im Alten Rathaus heute noch kaufen, und in Nummer 3 geht’s u.a. um Kneipen im Leipziger Osten.
„Zwischen Papser und ‚Taschentuchdiele'“, nennt sich ein Beitrag, den wir Dieter Bolle verdanken. Der war 1958 zum Studium aus Berlin nach Leipzig gekommen, lernte hier seine Frau kennen und blieb. Mit Frau (!) muss er jahrelang durch die Kneipen gezogen sein. Im „Leipziger Osten“ berichtet Bolle erinnernd „über einige Stätten des Wohlbefindens“ und gibt dabei jeweils Straße und Hausnummer an. Wir zitieren die liebevoll-erhellenden Texte und steuern aktuelle Fotos der Lokalitäten bei.
Gaststätte „Julius Hoffmann“, Eisenbahnstraße 30
„Wegen seiner mit rot-weiß-karierten Taschentüchern überzogenen Lampenschirme wurde dieses Lokal von jeher ‚Taschentuchdiele‘ genannt. Hier lernte ich drei Gastwirtsgenerationen kennen. In der 1. Generation war Herr Berger gleichzeitig Geschäftsführer und Zapfer. Seinem gestrengen Blick entging nichts. Ungern sah er Frauenbesuch, denn seine Maxime war: wo Frauen sind, gibt es zwischen Männern Ärger. Also wurden die Frauen gebeten, nach einem Kaffee und möglicherweise einem Schnäpschen das Lokal wieder zu verlassen. Herr Berger beherrschte seinen Job. Abends, wenn das Lokal schloß, wurden die aus Eichenholz gefertigten Tische gründlich mit Scheuersand gereinigt. Es war stets eine peinliche Ordnung.
Dann erwarb die Familie Wildemann das Lokal und führte es im gleichen Stil fort. Die Gaststätte hat eine über 100jährige Tradition. Die rustikale Ausstattung, die herrlichen Wandmalereien sowie die farbigen Butzenscheiben haben so manchen Besucher begeistert. (…)
Heute ist das Lokal im Besitz des Ehepaares Karin und Gert Walther. Sie betreiben die Gaststätte seit nunmehr 20 Jahren … Besonders der gute und preiswerte Mittagstisch lockt viele alte, aber auch neue Gäste an.“
Auf dem zugehörigen Innenfoto sind u.a. Stehtische zu sehen und über der Theke ein Schild mit der Aufschrift „Markranstädter Bier“. Unter der Außenansicht wird erwähnt, dass das Haus ein denkmalgeschütztes ist. Mittlerweile hat sich ein Spielcafé im „Julius Hoffmann“ eingerichtet.
„Altdeutscher Hof“, Neustädter Straße 24 / Ecke Ludwigstraße
„Schon der Name weist auf Tradition hin. Hier hatte unter anderen Thälmann* seinen Hunger und Durst gestillt, als er 1932 auf einer Wahlkundgebung im Leipziger Osten aufgetreten war. Bei meinem ersten Besuch fiel mir natürlich das Bild an der Wand auf, genau über dem Tisch, wo Thälmann einst gesessen hatte. Erst später habe ich von der Geschäftsinhaberin, Frau Anni Kietz, die ganze Historie erfahren.“
Dieter Bolle erzählt sie uns aber leider nicht, dafür anderes von Interesse: „1989 verkaufte Frau Kietz aus Altersgründen das Lokal an ein junges Gastwirtsehepaar, das das Lokal nach modernen Gesichtspunkten einrichtete. Fortan wandelte sich das Publikum. Nach der Rückübertragung des Hauses an den Alteigentümer wurde den Wirtsleuten gekündigt. Heute nutzt ‚Schlecker‘ die Räume vieler schöner Erinnerungen.“ Inzwischen ist diese Drogeriemarkt-Kette pleite und raus aus dem Haus, aktuell werden hier Fahrräder repariert und verkauft.
* KPD-Chef Ernst Thälmann, nach dem die Eisenbahnstraße einige Jahrzehnte Ernst-Thälmann-Straße hieß
Gaststätte „Papser“, Hermann-Liebmann-Straße 85
„Das bis etwa 1970 in Besitz von Willy Becker befindliche Tanzlokal war eine Stätte der Begegnungen tanzlustiger und unterhaltungsbedürftiger Menschen, denen es einfach darauf ankam, den Alltagsstreß zu vergessen und sich ohne Obszönitäten zu amüsieren. (…)
Als nach der Becker-Ära und kurzem Zwischenspiel eines privaten Pächters die HO (Handelsorganisation) die Gaststätte übernahm und eine Art Nobellokal namens „Achtern Strom“** in maritimem Stil daraus machte, änderte sich die Besucherstruktur. Mit dem veränderten Flair blieben auch mehr und mehr Gäste weg. Heute ist es ein Imbißlokal und keine gute Adresse.“
Nachtrag am 07.11.2014: Eine Leserin hat eine Speisekarte des „Achtern Strom“ in ihrem Besitz und uns einige Fotos davon geschickt. Vielen Dank! Da ist zum Beispiel vom Prädikat „Gaststätte der ausgezeichneten Qualität“ die Rede und standen die Mix-Grill-Platte „Matrosenart“ (7,60 Mark), der Saßnitzer Seemannsspieß (6,05 Mark) sowie das Schweineschnitzel „Fischerart“ (4,35 Mark) auf der Karte. Fischer-Art – damals schon?
** siehe dazu auch unseren Beitrag „Schnell noch hin!“, April 2014
Goldener Löwe, Meißner Straße 13: „mit herrlichem Kachelofen, den Skatkarten-Motive zierten; z.Z. geschlossen, Wiedereröffnung ist vorgesehen.“ Nach Gaststätte sieht es hier im November 2014 nicht mehr aus, immerhin guckt aber noch ein Löwe von der Wand.
Kulmbacher Hof, Hedwigstraße 4: „unvergeßlich die ‚Meinungsverschiedenheiten‘ zwischen Lisa und Herbert sowie Herberts Kartoffelsalat. – Wurde später in ‚Neustädter Burgklause‘ umbenannt.“ Seit kurzer Zeit lädt an Ort und Stelle die Bar ohne Namen zu Bier und Schwätzchen.
Bube, Konradstraße 58a: „Speisegaststätte am ehemaligen ‚Volkmarsdorfer Markt‘, herrliche Butzenfenster, gediegenes Interieur, heute noch bewirtschaftet.“ Das Lokal existiert nach wie vor!
Alte 38, Eisenbahnstraße 38: „man mußte schon etwas Mut mitbringen, um hier einzukehren, aber Wirt ‚Gustel‘ wußte in der Regel für Ordnung zu sorgen. Das Gebäude wurde Ende der siebziger Jahre abgerissen.“
Über die Carlo-Klause in der Kreuzstraße schließlich schreibt Sylvia Rohr in Leipziger Osten, Heft 2 („Mein Schulweg“): „Damals eine Kneipe für das graphische Gewerbe. Drucker, Setzer, Buchbinder und andere aus der Branche tranken dort nach der Spätschicht ihr Bier. Ebenso trafen sich Anwohner, private Meister (Krauter) oder Geschäftsleute ansässiger Gewerbe. Nach der Chorprobe genehmigte sich auch der Kantor der Nikolaikirche mit seiner Frau hier ein Bierchen.“
Als einer von uns Geheimtipp-Leipzig-Machern den Beruf des Offsetdruckers erlernte, Ende der 1980er Jahre, galt Pragers Biertunnel (Prager / Ecke Nürnberger Straße) als eine weitere Kneipe der Branche. Die Lehrwerkstatt befand sich in der Nürnberger / Ecke Sternwartenstraße (heute Edeka), Interdruck an der Ecke von Dresdner und Salomonstraße und die Berufsschule am Gutenbergplatz – alles in der Nähe.
Nachtrag am 09.11.2014: Wir haben Post bekommen, passende Post, von den Blogger-Kollegen von www.bier-in-leipzig.de. Deren Beitrag Leipziger SpaBIERgänge: #1 Der Osten – Kontor, Klaus und Kupferbier gefällt uns ausgesprochen gut und ergänzt unseren Kneipenrundgang speziell um Örtlichkeiten, an denen besondere Biere angeboten werden.
Nachtrag am 13.12.2017: Wir haben schon wieder Post bekommen (haha – drei Jahre später), diesmal vom Träger des Leipziger Buchpreises 2016, Guntram Vesper. Und der Frohburger fragte sich und uns, woher das Lokal Papser wohl seinen Namen hatte. „Vom Rauchen? In Frohburg sagte man zu starken Rauchern: Babbs nich so viel!“ Wir konnten nicht helfen und erwiderten: „In Leipzig würde man statt Babbsen Paffen zum Rauchen sagen. Ein Babbs ist hier eher ein Brei, eine undefinierbare Masse (Was’n das fürn Babbs?). Komisch, denn Frohburg liegt ja nicht weit entfernt.“ Nebenbei bezogen wir unseren Wortblende-Kollegen Harald in die Forschung ein. Und was sollen wir Euch sagen, der wusste es! Seine Antwort lautete: „Walter Rothschuh hat mir im April 1989 zu dem Thema geschrieben: Die Gaststätte ‚Achtern Strom‘ hieß früher ‚Zum Papser‘. Papser war vor 1918 das Soldatenwort für Zivilist. 1934 wurde es bei der Reichswehr verwendet, aber mit der engeren Bedeutung = Beamter, Nichtuniformierter.“ Unglaublich!